Der linksliberale, wirtschaftsliberale Jungpolitiker punktet, weil er keine Sehnsucht nach einer Zeit verkörpert, in der es angeblich besser war.
Frankreich hat ein Stück seines Stolzes verloren. Das Selbstvertrauen der großen Nation, die Europa in eine bessere Zukunft führen wollte, die immer auch über Grenzen hinweg gedacht hat – manchmal mit überheblicher Attitüde –, ist Vergangenheit. Mit François Mitterrand funktionierte das noch, mit Jacques Chirac schon weniger, mit Nicolas Sarkozy waren es nur Momentaufnahmen, mit François Hollande aber zog sich der Schatten gänzlich über das Land.
Düster wirkten die wirtschaftlichen Aussichten, ohnmächtig die eigene Rolle in einer globalisierten Welt, und dann noch die Terroranschläge: Sie waren kein reiner Angriff von außen, sie kamen zu einem guten Teil aus der eigenen, von nordafrikanischen Migranten mitgeprägten Gesellschaft. Aufgerieben, reformunfähig und seiner Bedeutung als Gegengewicht Deutschlands beraubt, gab sich Frankreich in den vergangenen Jahren dem Selbstmitleid hin.
Dass aus dieser Stimmungslage der Wunsch nach Renaissance alter Zeiten immer lauter wurde, hat viel mit den internen Kontroversen der ehemals dominierenden politischen Lager, aber auch mit einem gespalteten Politikbewusstsein zu tun. Frankreich, so schrieb der Philosoph Peter Sloterdijk zuletzt in der „Zeit“, ist seit 1848 ein zweigeteiltes Land. „Was sich das eine und unteilbare Frankreich nannte, waren in Wirklichkeit zwei verfeindete Völker, die dasselbe Land bewohnten, das eine konservativ, katholisch, monarchistisch und von einem unheilbaren Ressentiment gegen die Revolution und ihre Folgen beseelt, das andere republikanisch, laizistisch, universalistisch und davon überzeugt, dazu auserwählt zu sein, der Welt das französische Evangelium zu predigen.“
In diesem bis heute unaufgelösten Zwiespalt fand der Rechtspopulismus einen fruchtbaren Boden. Die eigene Orientierungslosigkeit lud dazu ein, den äußeren Feind für alle negativen Entwicklungen verantwortlich zu machen und den Traum von einer Rückkehr zu einer abgeschotteten, heimeligen Nation in immer neuen Versionen zu propagieren. Die Migranten, die EU, die von Asien und den USA dominierte Globalisierung – all das schien dabei mehr für das Ungemach verantwortlich zu sein als das eigene Unvermögen zur Veränderung. Womit Sozialisten und Konservative entschuldigend als Begründung für ihre Reformunfähigkeit argumentierten – der starke Euro, die starke Konkurrenz Deutschlands –, wurde zusätzlicher Treibstoff für die rechtsnationale Abschottungspolitik.
Mit etwas Abstand zu diesem Land klingt das alles übertrieben und absurd: Frankreich ist heute die zweitwichtigste Exportnation der EU, es hat einzigartige technologische Entwicklungen hervorgebracht, mit denen es international reüssiert. Seit Jahren investiert das Land stärker als viele andere Konkurrenten in Forschung und Innovation. Die Arbeitslosigkeit ist zwar vor allem bei der Jugend sehr hoch. Aber der Eindruck, das Land sei vor 20 oder 30 Jahren deutlich besser dagestanden, ist schlicht falsch.
Emmanuel Macron mag aus einem guten Grund die besten Chancen haben, als nächster Präsident in den Élysée-Palast einzuziehen. Er steht nämlich für das Gegenteil dieser mieselsüchtigen Stimmung: Er sucht die Antworten nicht innerhalb neuer gezogener Grenzen, sondern im gemeinsamen Europa, in einem aktiven Mitwirken an der Globalisierung. Ihm ist es gelungen, einen Kontrapunkt zu einer rückwärtsgewandten Politik zu setzen, indem er den Markt nicht verteufelt und die eigene Verantwortung propagiert. Und er gab auf Anhieb vielen Franzosen das Gefühl, dass ihr Land mit Offenheit, Fleiß und Bildung seinen Stolz wiederfinden kann.
Noch ist es zu früh, Macron abseits dieser durchaus gesunden Einstellung zu bejubeln. Denn er wird letztlich nicht nur eine Mehrheit der Wähler, sondern nach den Parlamentswahlen auch eine Mehrheit im zerklüfteten Parteienspektrum für seinen neuen Kurs finden müssen. Dass einer mit philosophischer Ausbildung, mit Erfahrungen in der Wirtschaft, abseits etablierter Parteien überhaupt so weit kommt, ist jedenfalls ein Hoffnungsschimmer – Macron personifiziert das Ende des kleinen Horizonts.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2017)