Leitartikel

Das Netz als Erweiterung begreifen, nicht als eine Wildwestwelt

1935, automobile Revolution auf der Kärtnerstraße
1935, automobile Revolution auf der KärtnerstraßeImago
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Wie bei vielen anderen Veränderungen auch sollten wir versuchen, nicht in hysterische Chöre einzustimmen.

Den Kutschern waren sie zu Recht unheimlich bis suspekt: Als die ersten Automobile durch die Straßen ratterten, glaubten nicht viele an deren Siegeszug. Zu teuer, zu mühselig in der Wartung, zu laut und zu kompliziert, wenn es um die Energiezufuhr ging. Heute gibt es Kutschen nur noch für Touristen.

Die Anfangsphase der automobilen Revolution war noch von einem anderen Umstand geprägt: Es gab de facto kein Regelwerk, keine Verkehrsordnung. So soll die Todesfall-pro-Fahrzeug-Rate in den ersten Jahrzehnten laut dem dürftigen Statistikmaterial höher gewesen sein als jemals später. Die Wildwestanarchie forderte einen hohen Blutzoll, nicht der technische Fortschritt, der unaufhaltbar war.

Die Errungenschaft Auto war riskant für den Leib, die Errungenschaft Internet ist es mitunter für die Seele. Wie damals befinden wir uns in den Anfangsjahren eines neuen Zeitalters, wie damals haben wir noch nicht genau geregelt, wie wir im Netz miteinander umgehen wollen und können. Angesichts unfassbarer Hetze, offen ausgedrückten Hasses gegen Personen und einer scheinbar kollektiven Lust, gegen einzelne Mitmenschen oder andere Meinungen mit allen verfügbaren rhetorischen Mitteln und Drohungen vorzugehen, wäre es höchst an der Zeit, ein Regelwerk zwecks Mäßigung zu finden.

Das soll kein Ruf an den Gesetzgeber werden, (weitere) zahnlose Paragrafen zu erfinden, die möglicherweise anderweitig auch gegen die Meinungsfreiheit eingesetzt werden und wenig bis nichts bringen, sondern ein Appell an uns alle, das Netz als Erweiterung unseres Lebens, unserer Dimension zu verstehen – und nicht als neue Wildwestwelt, in der es keine Regeln gibt. Die sind dort genauso wichtig wie im Verkehr oder im sozialen Leben: Man begegnet einander mit Respekt, versucht sich an die gute alte Kindererziehung zu erinnern und merkt das auch an, so es dem Gegenüber daran mangelt. Anders formuliert: Was eine Zivilgesellschaft ausmacht, ist der größte gemeinsame Nenner, das Überschreiten der roten Linie sozial zu ahnden, indem der Schritt von möglichst vielen verurteilt wird, ohne Wortwahl und Lautstärke selbst anzuwenden. Um diesem zugegebenermaßen hehren Ziel ein wenig näherzukommen, haben sich „Die Presse“ und die führenden Regionalzeitungen zu einer Aktion entschlossen: Eine Woche lang werden wir unter dem programmatischen Titel „Respekt“ für einen vernünftigeren Umgang miteinander eintreten und die Probleme von Algorithmus bis Zensur behandeln. Am Donnerstag werden wir eine gesamte Schwerpunktausgabe zur Digitalisierung produzieren, um das enorme Ausmaß dieser Veränderung unserer Lebens- und Arbeitsweise darzustellen.

Wie bei vielen Veränderungen sollten wir versuchen, nicht in die hysterischen Chöre einzustimmen. Auch wenn sich der Ton gegenüber Politikern auf ein unerträgliches Maß verschärft hat: Es waren keineswegs nur anonyme und teilweise namentlich bekannte Poster oder Journalisten, die etwa Eva Glawischnig oder Reinhold Mitterlehner zum Rücktritt zwangen. Die politischen Gegner, Parteifreunde und eigene Defizite waren ebenso ausschlaggebend. Ja, sogar die viel zitierten Fake News sind keine Erfindung der Donald-Trump-Anhänger oder anderer dunkler Kräfte. Schon zu Zeiten von Zarin Katharina der Großen wurden erfundene Geschichten über angebliche Freveltaten verbreitet – viel langsamer, aber nicht weniger effektiv. Bis heute ist das ureigenste Aufgabe von Journalismus: Geschichten zu überprüfen, zu recherchieren und bei Bedarf richtigzustellen. So gesehen, mag die Konkurrenz zu klassischen Medienhäusern massiv gewachsen sein, unsere Bedeutung als ernst zu nehmende Instanz der Informationsbewertung auch.

Die „NZZ“ zitierte vor Kurzem treffend: „Der Internet-Enthusiast John Perry Barlow formulierte 1996 eine digitale Unabhängigkeitserklärung: ,Regierungen, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich: Lasst uns in Ruhe! Ihr seid nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, besitzt ihr keine Souveränität.‘“

Das entspricht nicht der Wahrheit.

E-Mails an: rainer.nowak@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.06.2017)

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