Leitartikel

Für Eigenverantwortung ist kein Platz im rot-weiß-roten Sozialstaat

(c) Clemens Fabry
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Nicht die Ungleichheit ist unser größtes soziales Problem, sondern die zunehmende Entmündigung des Bürgers durch den Staat.

Die Ungleichheit ist die Dienerin des Fortschritts.“ Dieser Satz stammt vom britischen Ökonomen Angus Deaton. Für seine Forschung über Armut und Wohlfahrt hat er 2015 den Wirtschaftsnobelpreis bekommen. Einer breiten Öffentlichkeit ist Deaton als Gegner der Entwicklungshilfe bekannt geworden. Almosen helfen zwar kurzfristig, verhindern aber den Aufbau eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Je mehr Chancen wir in unserem Leben haben, desto größer also wird die Ungleichheit. Deaton stammt aus einer Bergarbeiterfamilie in Yorkshire. Sein Großvater brachte es zum Vorarbeiter, sein Vater zum Vermessungstechniker und er zum Universitätsprofessor. In nur drei Generationen brachte es die Familie Deaton durch Fleiß und Glück – sein Vater kam unverwundet aus dem Krieg zurück – zu einem Wohlstand, den sich der Großvater nicht in den kühnsten Träumen vorstellen konnte.

Aber natürlich gibt es auch die anderen, die weniger Talentierten, die weniger Glücklichen, die im Kohlerevier geblieben sind – und heute im Gegensatz zu ihren Vorfahren keinen Job mehr im Bergwerk haben. Die Ungleichheit ist vor allem in den Jahren der wirtschaftlichen Prosperität enorm gestiegen – in den Jahren der Wirtschaftskrise übrigens nicht. Seit knapp zehn Jahren bewegt sich der Gini-Koeffizient – der die Ungleichheit misst – de facto nicht von der Stelle. Stillstand drosselt die Ungleichheit, erhöht aber bekanntlich die Unzufriedenheit.

Die Dienerin des Fortschritts beschert uns auf der einen Seite so viele Arbeitsplätze wie nie zuvor und auf der anderen eine unverschämt hohe Arbeitslosigkeit. Der Preis für ein längeres Leben sind ein brüchiges Pensionssystem und rasant steigende Pflegekosten. Obwohl es uns heute meist besser geht als unseren Eltern und Großeltern, stößt der Sozialstaat an seine Grenzen. Die Sozialausgaben machen schon mehr als 30 Prozent unserer Wirtschaftsleistung aus. Längst geht es nicht nur um die Frage, ob wir den Staat allein mit unseren vergleichsweise hohen Steuern und Abgaben finanzieren sollen. Er will zusätzlich auch an unser Privatvermögen, etwa wenn wir pflegebedürftig oder langzeitarbeitslos sind.

Die Diskussion ist vor wenigen Wochen entflammt, als bekannt wurde, dass sich Finanzminister Hans Jörg Schelling das deutsche Hartz-IV-Modell für Österreich durchrechnen ließ. In Deutschland greift der Staat nämlich relativ schnell auf das Privatvermögen Arbeitsloser zu. Das mag man als soziale Kälte geißeln. Doch das System zwang viele zur Selbstverantwortung. Plötzlich gab es in den Tiroler Hotels und Skihütten scharenweise Personal aus Ostdeutschland. Und heute? Heute haben diese einstigen Gastarbeiter alle wieder Jobs in ihrer Heimat, ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland so niedrig wie vor dem Mauerfall. Hartz IV ist eine bittere Medizin, aber sie wirkt.

Allein in Wien beziehen 152.000 Menschen Mindestsicherung, und die rot-grüne Stadtregierung beharrt dennoch auf einer Mindestsicherung ohne Wenn und Aber. „Nicht die Armen, sondern die Armut bekämpfen“, sagt Bürgermeister Häupl. Immerhin sei es künftig in Wien „ein Kriterium“ – also kein Muss –, eine Beschäftigung oder ein Kursangebot anzunehmen. Es ist erschütternd, wie wenig Verantwortung der Sozialstaat seinen Bürgern zumutet. Zumutet? Der Staat erzieht geradezu zu Verantwortungslosigkeit.

Diesen eklatanten Mangel an Eigeninitiative findet man auch bei der Pflege. Während wir in Österreich über Regress oder gar Erbschaftssteuer zur Finanzierung der Altenpflege diskutieren, überlegt man in der Schweiz längst eine obligatorische Pflegeversicherung. Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob sich jemand einen Pflegeanspruch durch regelmäßige Einzahlungen erworben hat, oder ob er am Ende des Lebens auf Gedeih und Verderb auf das Wohlwollen des Staates angewiesen ist.

Die Ungleichheit ist der Preis für unseren Fortschritt und Wohlstand. Es ist Aufgabe des Staates sie dort zu lindern, wo sich der Einzelne nicht selbst helfen kann. Nicht mit Placebos, sondern mit gut dosierter Medizin. Diese darf gelegentlich aber auch ein wenig bitter sein.

E-Mails an:gerhard.hofer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2017)

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