Leitartikel

Hysterie und Inkontinenz im Juni

Sebastian Kurz
Sebastian KurzREUTERS
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So fokussiert schlicht, so werblich mit allen Mitteln, so emotional geht es in den Tagen vor einer Wahl zu, noch Monate davor. Die Differenzierung wird offenbar nur noch manchen Medien gelingen.

Es sind Szenen und Eindrücke, wie wir sie aus den letzten Tagen und Wochen vor der Wahl kennen: Hysterisch werden der politische Gegner und dessen Anhänger mit allen Mitteln verteufelt. Die Spitzenkandidaten produzieren um jeden Preis Schlagzeilen und versprechen jedem alles. In der kleinen österreichischen Gesellschaft – die wirtschaftlichen und wahlbeeinflussenden Tatsachen verkennend – wird der Druck auf „Prominente“ erhöht, sich offen für einen Kandidaten zu outen. Der arme Christian Konrad muss gar dementieren, ins Team Kern (oder Esoterik-Pink) zu wechseln, so laut waren die Lockrufe. Medien und Journalisten werden als gekaufte Unterstützer des jeweiligen Gegners vernadert. Wahlkampf ist nicht nur die Zeit fokussierter Unintelligenz, sondern die Zeit emotionaler Inkontinenz. Neu ist, dass es sich vier Monate vor der Wahl so abspielt.

Ein paar Erfahrungen einer heißen Woche: Sebastian Kurz, Meister der Verknappung, propagiert auf einer Veranstaltung die Notwendigkeit, islamische Kindergärten zu schließen, da sie von der Mehrheitsgesellschaft abgeschottet seien, aber mit Steuergeld finanziert werden. Daher müsse ein Kriterienkatalog her, so diese Kriterien nicht erreicht würden, müsse der Kindergarten schließen. Die Stadt Wien kontert namens des neuen Stadtratslieblings Jürgen Czernohorszky, dass Kurz nur Probleme lösen wolle, die er selbst erfinde. Tags darauf berichtet die „Krone“ von armen Mädchen mit Kopftuch und Radikalisierung in solchen Kindergärten.

Das ist eine Polarisierungsgeschichte, die unter Mitwirkung aller – auch der Medien – inszeniert wird. Erstens: Selbst wenn Kurz die einfache Schlagzeile liebt, die Forderung nach einem Kriterienkatalog, ohne dessen Einhaltung es kein Geld gibt, ist keine. Haben wir solche Kriterien nicht schon längst? Zweitens: Natürlich existieren Probleme in Kindergärten. Problemleugnung ist der beste Weg, Wähler für die FPÖ (und nun Kurz?) zu mobilisieren, das sollte in Wien bekannt sein. Drittens: Wie könnte man alle islamischen Kindergärten einfach zusperren? Oder sollte das für alle konfessionellen Kindergärten gelten? Wollen wir das bitte nach dem 15. Oktober weiterdiskutieren? Danke!

Anderes Beispiel: Kurz fordert wie viele andere Politiker die Schließung der Mittelmeerroute. Christian Kern nannte dies bei einem Hintergrundgespräch „Vollholler“ – an dieser Stelle unsere ernsthafte Entschuldigung, die Gepflogenheit, Off-the-Record-Formulierungen nicht zu verwenden, gebrochen zu haben. Dabei hat Kern ein bisschen recht: Man kann eine Route nicht einfach mit einer Schlauchbootkette schließen. Aber: Kurz hat auch recht, wenn er meint, man müsse klare Signale setzen. So war das schon bei der Balkanroute: Natürlich konnte die nicht hermetisch geschlossen werden. Aber allein, dass sich Mazedonien mit Zäunen abschirmt und damit -schreckt, hat die Zahl der Flüchtlinge über diese Route deutlich reduziert. (Vor allem in Kombination mit dem zynischen, aber effektiven Türkei-Deal.)

Was das heißt? Haben nun alle fast recht? Nein, aber die Wahrheit ist immer grau, nie schwarz oder weiß. Nicht einmal laute und hysterische Wahlkämpfer werden an dieser Tatsache etwas ändern können.

rainer.nowak@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2017)

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