Das Phänomen Merkel und die Mühsal der SPD

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Politische Moden kommen und gehen – nur Angela Merkel bleibt. Panik in der SPD: Martin Schulz attackiert die Kanzlerin. Sie aber entzieht sich der Kritik.

Die politischen Trends und Moden werden immer erratischer und widersprüchlicher. Wer soll noch den Willen der Wähler und ihre Launen erahnen, geschweige denn verstehen? Da wird in Großbritannien eine Theresa May vor zwei Monaten noch als souveräne und unantastbare Premierministerin gefeiert, um nun, zur „Dead Woman Walking“ verdammt, als Chefin einer wackligen Minderheitsregierung einer düsteren Zukunft entgegenzugehen. Umgekehrt wird ihr Herausforderer Jeremy Corbyn, vor wenigen Wochen als linker „Spinner“ verschrien, beim Musikfestival in Glastonbury plötzlich als Popstar und Heilsbringer bejubelt. Wer gab Emmanuel Macron zudem vor einem Jahr nur den Funken einer Chance?

Martin Schulz hat das schwindelerregende Auf und Ab in diesem Frühjahr als Achterbahnfahrt erlebt. Erst führte die Euphorie um seine Kür den SPD-Kanzlerkandidaten, dem dies selbst nicht recht geheuer war, in ungeahnte Höhen. Der Zenit war die Wahl zum SPD-Chef, mit einem Ergebnis von 100Prozent, angesichts dessen einst selbst kommunistische Apparatschiks in Moskau erblasst wären. Umso bitterer dann der jähe Absturz nach dem Hype, an dem sich Sozialdemokraten wie Medien berauscht hatten. Nach drei krachenden Niederlagen bei den Landtagswahlen – und drei Monate vor den Bundestagswahlen – ist die Ausgangsposition für die SPD nunmehr dieselbe wie beim Stabwechsel an der Spitze von Sigmar Gabriel zu Martin Schulz vor fünf Monaten. Nur dass der ungeliebte Ex-Parteichef Gabriel als Außenminister auf einmal ungeahnte Popularität und Renommee genießt.

Schulz sieht sich in derselben Situation wie Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück, seine Vorgänger als Merkel-Rivalen, die 2009 und 2013 jeweils sang- und klanglos untergingen. Seine einzige Chance besteht darin, die Kanzlerin zu attackieren. Doch Merkel bietet kaum Angriffsflächen: Sie moderiert, sie kalmiert, ja, zuweilen ignoriert sie ihre Gegner nicht einmal. Kurzum: Sie „merkelt“. Das Phänomen Merkel ist nur schwer zu fassen. Sie führt das Land mit ruhiger Hand – bis zur einschläfernden Fadesse. Die „Merkel-Müdigkeit“, teilweise eine Erfindung der Medien, um die Spannung zu erhöhen, dürfte mittlerweile verflogen sein. Der Burgfriede mit der CSU hält, der Aufruhr über die Flüchtlingspolitik scheint vorerst passé, Merkel verteilt Milliarden. Ihr Gestus der Raute ist zum Markenzeichen geworden, der Wahlkampfslogan der Union ist angesichts von Rekordbudgetüberschüssen symptomatisch: „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gern leben.“ Erinnerungen an die konservativen Hochzeiten Adenauers und Kohls werden wach. Biederer geht es kaum mehr.

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Schulz in Panik verfällt. Um sich Mut zuzusprechen, grub die SPD beim Programmparteitag in Dortmund ein Fossil aus. Ein salopper Gerhard Schröder gab die Parole „Venceremos“ aus, was indessen nur seltsam ironisch und vorgestrig wirkte. Angesichts realer Terrorgefahr war der Vorwurf, Merkels Politstil sei ein „Anschlag auf die Demokratie“, völlig deplatziert. Martin Schulz vergriff sich im Vokabular – ein Verzweiflungsakt. Im Wahlkampf wird für Debatten noch genug Zeit sein.

Angela Merkel ficht das alles nicht an. Beim europäischen Staatsakt für Helmut Kohl und erst recht als Gastgeberin des G20-Gipfels in Hamburg wird sie im Rampenlicht stehen und sich – quasi als Anti-Trump – als verlässliche Führungspersönlichkeit in der Weltpolitik erweisen. In der Innenpolitik stehen ihr alle Optionen offen: ein Bündnis mit der erstarkten FDP, mit den Grünen oder in Form einer „Jamaika-Koalition“ mit beiden Parteien, wie sie Schleswig-Holstein dieser Tage aus der Taufe hebt.

Als einzige Politikerin hat Merkel alle Moden überlebt – die Obamas, Sarkozys, Camerons, Renzis. Für Schulz wäre dagegen eine Mischung aus Corbyn und Macron verlockend. Es ist eine Formel, die sich ausschließt. Je mehr Schulz experimentiert, desto größer ist das Risiko des Scheiterns. „Let Schulz be Schulz“ lautet darum das Motto seines Stabs. Denn die deutschen Wähler schätzen bei allem Willen zum Wechsel Authentizität. Sie wissen, was sie an Merkel haben. Bei Schulz ist dies indes nicht so ganz gewiss.

E-Mails an:thomas.vieregge@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2017)

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