Die Flucht Zigtausender Menschen über das Mittelmeer erinnert die Europäer wieder an die Krise in Libyen. Zu einem kohärenten Vorgehen finden sie nicht.
Libyen ist ein Schlüsselland beim Transit von Flüchtlingen und Migranten nach Europa. Das steht außer Zweifel. Also versuchen – naheliegenderweise – viele europäische Regierungen auch hier anzusetzen. Ihre Hoffnung: Es muss nur dafür gesorgt werden, dass in Libyen stabile Verhältnisse herrschen. Dann erhält man in dem nordafrikanischen Land einen zuverlässigen Ansprechpartner, der die Abfahrt von Menschen über das Mittelmeer quasi mit einem Schlag stoppt. Oder zumindest könnten dann in Libyen Auffanglager errichtet werden, in die die europäischen Küstenwachen auf See abgefangene Personen zurückbringen. Diese Pläne scheinen in der Theorie nachvollziehbar, in der Praxis sind sie derzeit aber nicht mehr als Wunschdenken.
Abkommen über die Einrichtung von Anlaufstellen für Flüchtlinge sind auch mit viel stabileren Ländern Nordafrikas wie etwa Tunesien nur schwer umzusetzen: Diese Staaten nehmen zum Teil nicht einmal ihre eigenen abgewiesenen Bürger aus der EU zurück. Warum sollten sie dann – nur weil sich die Europäer das wünschen – auf ihrem Territorium Menschen aus anderen Regionen aufnehmen, die ja eigentlich in die EU wollen?
Im Falle Libyens ist die Sache noch weitaus komplizierter. Die Sicherheitslage in dem Land ist prekär. Daran wird sich so rasch nicht viel ändern. Auch die Einhaltung einfachster menschenrechtlicher Normen – etwa im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten – kann von den zahlreichen bewaffneten Gruppen in Libyen in nächster Zeit kaum erwartet werden.
Auf Menschenrechte hatte auch der frühere libysche Machthaber Muammar al-Gaddafi nicht geachtet, als er phasenweise für EU-Länder wie Italien Flüchtlinge an der Weiterreise hinderte. In Europas Staatskanzleien wollte man gar nicht so genau wissen, mit welchen Methoden Gaddafi dies bewerkstelligte. Organisationen wie Amnesty International berichteten jedoch schon damals über Folter in Libyens Haftzentren für Flüchtlinge. Zugleich wurden auch viele Migranten aus südlicheren afrikanischen Ländern vom Gaddafi-Regime als Arbeitskräfte aufgenommen. Als 2011 der Aufstand in Libyen losbrach, fielen diese Menschen jedoch als angebliche „Gaddafi-Kollaborateure“ dem Wüten der Rebellen zum Opfer.
Nach dem Tod Gaddafis, der im Oktober 2011 nach seiner Gefangennahme von Rebellen umgebracht worden war, herrschte fast drei Jahre gespannte Ruhe – immer wieder überschattet von Scharmützeln zwischen rivalisierenden Gruppen. Im Sommer 2014 stürzte das Land dann endgültig in einen Bürgerkrieg zwischen den großen, um die Macht in Libyen kämpfenden Playern.
Die USA und die europäischen Nato-Staaten hatten die Aufständischen gegen Gaddafi militärisch unterstützt. Danach meldeten sie sich aus Libyen aber weitgehend ab. Nun hat Europa das Land wiederentdeckt. Das hat nicht nur wirtschaftlich-strategische und sicherheitspolitische Gründe wie den Kampf gegen jihadistische Gruppen. Es hat natürlich vor allem auch mit der Flüchtlingsroute durch Libyen zu tun.
Von einem kohärenten Vorgehen der EU-Staaten beim Versuch, Libyen wieder Stabilität zu bringen, kann aber keine Rede sein. Zuletzt preschte Frankreichs Präsident, Emmanuel Macron, vor. Er organisierte ein Treffen zwischen Libyens Premier, Fayez al-Sarraj, und General Khalifa Haftar, der Teile Ostlibyens kontrolliert. Rom zeigte sich über die Einbindung des Generals durch Paris erbost. Italien stellte sich stets hinter Sarrajs international anerkannte Einheitsregierung. Mit Haftar, der vor allem von Russland und Ägypten unterstützt wird, wollte man bisher nichts zu tun haben.
Es wäre hoch an der Zeit, dass Libyen politisch wieder Halt findet. Dass das bald und vor allem nachhaltig geschieht, ist aber wenig wahrscheinlich. Zu groß sind die unterschiedlichen Interessen und Ambitionen der internen Player und ihrer jeweiligen ausländischen Unterstützer. Dass die Flüchtlingsproblematik das nordafrikanische Land wieder stärker in den Fokus der Europäer rückt, ist grundsätzlich positiv. Rasche und einfache Lösungen wird es aber nicht geben.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2017)