Anstatt Nordkoreas Diktator energisch unter Druck zu setzen, macht Peking seinem Verbündeten im Zweifel immer die Mauer.
Es hätte schlimmer kommen können. Das nordkoreanische Regime kalkuliert seine Provokationen kühl. Es dosiert den Wahnsinn. Hätte Machthaber Kim Jong-un, wie vor ein paar Wochen angedroht, eine Rakete in Richtung der US-Pazifikinsel abgefeuert, wäre die Welt vor einem neuen Krieg gestanden. Denn dann wäre dem US-Präsidenten, Donald Trump, fast nichts anderes übrig geblieben, als seinen martialischen Drohungen erste Taten folgen zu lassen. Doch die Nordkoreaner ballerten ihre Hwasong-12 nicht gen Guam im Südosten, sondern über die im Nordosten gelegene japanische Insel Hokkaido hinweg. Das Geschoss landete nach 2700 Kilometern Flug im Pazifik; das amerikanische Eiland Guam ist 3000 Kilometer von Nordkorea entfernt, nicht viel weiter also.
Auch wenn die Richtung nicht stimmte: Adressat der Raketengrüße aus Pjöngjang war einmal mehr Washington. Der nordkoreanische Diktator verfolgt ein klares Ziel mit seiner verhaltensauffälligen Außenpolitik. Er will von den USA auf Augenhöhe als Herrscher einer Atommacht anerkannt werden. Diplomatische Schützenhilfe erhielt Kim Jong-un von seinen zunehmend entnervten chinesischen Verbündeten. Anstatt den Raketentest ohne Wenn und Aber zu verurteilen, hatte die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums für die USA und deren Alliierte einen kleinen pädagogischen Tipp für den Umgang mit dem nordkoreanischen Dr. Seltsam parat: „Druck, Sanktionen und Drohungen“ seien nicht hilfreich gewesen, um das Problem zu lösen. Entspannen lasse sich die Situation nur durch eine Rückkehr an den Verhandlungstisch.
Das Gespräch zu suchen kann nie verkehrt sein. Doch kriegslustiges Verhalten postwendend zu belohnen ist eine zweifelhafte Strategie, um einem Aggressor beizukommen. Abschreckung ist die einzige Methode, um das nordkoreanische Regime zumindest einzudämmen. Andernfalls wird sich der nordkoreanische Despot ermuntert fühlen, der internationalen Gemeinschaft die Atombombe an die Brust zu setzen und ein Zugeständnis nach dem anderen abzupressen. Wer nicht zögert, eine Rakete über die Köpfe von Millionen Japanern abzufeuern, wird auch künftig wenig Skrupel zeigen, um Gegner einzuschüchtern und sich Vorteile zu verschaffen.
Über kurz oder lang wird Nordkorea das militärische Gleichgewicht in dieser für die Weltwirtschaft so wichtigen Region durcheinanderschütteln. Der Rüstungswettlauf hat schon begonnen. Vor nicht allzu langer Zeit hat ein Präsidentschaftskandidat namens Donald Trump laut darüber nachgedacht, ob sich demnächst nicht auch Japan und Südkorea Atomwaffen zulegen sollten. In Seoul wird darüber bereits debattiert. Und Tokio erwägt, die militärische Zurückhaltung aufzugeben und die Pazifismusklausel aus der Verfassung zu tilgen. Gleichzeitig bekräftigen beide Staaten vehement ihre Militärallianz mit den USA. Für China, das seinen Einfluss in Asien ausweiten will, kommen die nordkoreanischen Spielchen mit dem Feuer ganz und gar ungelegen. Dennoch ist die Führung in Peking nicht in der Lage, den ungestümen Genossen in Pjöngjang in Zaum zu halten. Der nordkoreanische Zauberlehrling tanzt auch der chinesischen Supermacht auf der Nase herum.
Peking hat sich zwar zuletzt überraschend harten Sanktionen gegen Nordkorea angeschlossen. Doch zu weit wollen es die Chinesen auch nicht treiben. Ein Sturz des Regimes in Pjöngjang kommt für sie nicht infrage: erstens aus Prinzip und zweitens, weil sich dann die Balance in der Region zugunsten des Westens verschieben könnte. China ist in einem strategischen Dilemma gefangen: Es lehnt die atomare Bewaffnung Nordkoreas ab, denn die Dauerkrise festigt Amerikas Asien-Bündnis. Gleichzeitig scheut China aus Angst vor Instabilität zurück, ernsthaft gegen Kim vorzugehen. Es wirft ihm immer wieder politische und wirtschaftliche Rettungsleinen zu.
Doch auch mit seinem Doppelspiel wird China den Status quo nicht ewig aufrechterhalten. Es muss seinen Beitrag leisten, um Nordkorea von Massenvernichtungswaffen abzuschrecken. Kim wird der Welt nicht den Gefallen tun, alle seine Raketen ins Meer zu schießen. Er hat mehr als 1000 davon.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2017)