Abrechnung mit der Orangen Revolution

Die Ukraine wählt am Sonntag einen neuen Präsidenten. Der Wahlfälscher von 2004 hat die besten Chancen.

Es ist schon grotesk und zugleich tragisch: Der Mann, der vor fünf Jahren als Profiteur einer gigantischen Wahlmanipulationsaktion der Präsident der Ukraine werden sollte, was eine Protestbewegung der Bevölkerung aber verhinderte, also Viktor Janukowitsch – der ist nach jetzigem Stand auf bestem Wege, neuer ukrainischer Staatschef zu werden. Dieses Mal legal, ohne schmutzige Tricks, ohne massive Einmischung aus Moskau. Der Mann aber, den sie vor fünf Jahren sogar vergiften wollten, damit er ja nicht an die Staatsspitze gelange, den entschlossener Bürgerwille während der Orangen Revolution dann aber doch ins Präsidentenamt spülte – also Viktor Juschtschenko –, der steht bei der Präsidentenwahl am Sonntag mit ganz wenigen Prozentpunkten vor der bittersten Niederlage seiner politischen Karriere.

Was ist in diesen fünf Jahren passiert im 46-Millionen-Staat im Osten Europas? Hat die ukrainische Bevölkerung ihre politische Einstellung radikal geändert, von Orange auf Blau geschaltet? Ist Juschtschenko tatsächlich der totale politische Versager, als den ihn die meisten Kommentatoren zwischen Moskau und Washington inzwischen hinstellen – dumpf nationalistisch, russophob, stur, lernunfähig, streitsüchtig?

Bei seinen jetzigen Zustimmungsraten ist es leicht, auf Juschtschenko herumzutrampeln. Tatsächlich ist es angesichts des jetzigen Zustandes des Landes – politisch zerstritten, wirtschaftlich am Boden, finanziell am Rande des Staatsbankrotts, sozial zerrissen und weiterhin von diversen historischen und kulturellen Bruchlinien durchzogen – schwierig, in der Juschtschenko-Bilanz etwas Positives zu finden.

Und trotzdem – wo viel Schatten, da muss es auch irgendwo Licht geben: Die Ukraine ist laut des jüngsten Index von „Freedom House“ das einzige postsowjetische Land (die baltischen Republiken ausgenommen), das „frei“ ist. Es gibt Presse-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit, es existiert eine rührige Zivilgesellschaft. Bisweilen kann man sogar den bösen Eindruck bekommen, dass die Freiheit in der Ukraine politisch zu exzessiv ausgekostet wird. Und genau weil sich die Demokratie in der Ukraine unter der Juschtschenko-Herrschaft so ausbreiten konnte, wird ihn Janukowitsch, sein Erzrivale von 2004, mit einiger Wahrscheinlichkeit im Präsidentenamt ablösen.

Aber von Demokratie allein kann ein potenziell reiches, aber nach wie vor ziemlich armes Land nicht leben. Juschtschenko und sein oranges Lager haben in fünf Jahren vor allem versäumt, den Umbau des Landes in Angriff zu nehmen: die Modernisierung der Infrastruktur einzuleiten, das Gesundheits- und Pensionssystem zu reformieren, die Energieversorgung auf neue Basis zu stellen, günstige Grundlagen für Auslandsinvestoren zu schaffen, die Korruption zu bekämpfen, durch Verfassungskorrekturen endlich handlungsfähige politische Strukturen zu schaffen usw. Stattdessen sind sich der Präsident und die Ministerpräsidentin andauernd in den Haaren gelegen, wurde die Parlamentsarbeit blockiert, haben die Abgeordneten einander Ohrfeigen gegeben.

Kein Wunder, dass sich angesichts dieses politischen Schauspiels viele ukrainische Bürger angewidert abwenden, Juschtschenko am Wahltag die Rechnung präsentieren und für einen Protestkandidaten oder „Gegen alle“ (ein solches Votum ist in der Ukraine im Gegensatz zu Russland immer noch möglich) stimmen werden. Und auch Julia Timoschenko könnte, wie ihrem orangen Rivalen, bei dieser Wahl noch eine bittere Niederlage blühen.

Schließlich ist sie als Regierungschefin für das wirtschaftliche und soziale Schlamassel wesentlich mitverantwortlich, hat ihren Landsleuten in all den Jahren unzählige Versprechungen gemacht, aber die allerwenigsten davon gehalten. Und nicht wenige befürchten, dass die beinharte Populistin, säße sie einmal auf dem Präsidentensessel, wie ihr russischer Kollege Wladimir Putin alsbald autokratischen Versuchungen erliegen könnte.

Dann gelangt also wohl Janukowitsch, der steife, biedere, russophile Technokrat, an die Staatsspitze? Ja, außer Sergej Tigipko, der frühere Wirtschaftsminister, entpuppt sich noch als Überraschungsmann. Für ihn spricht, dass einer Mehrheit der Wählerschaft die jetzigen Führerfiguren des Landes unendlich auf die Nerven gehen. Wer immer es schafft – ob ein Alt- oder vielleicht doch ein Neupolitiker –, er steht vor einem ungeheuren Berg ungelöster Probleme. Ein Neuer wie Tigipko würde vielleicht sogar wagen, mit der Abtragung dieses Berges zu beginnen. Janukowitsch oder Timoschenko ziemlich sicher nicht.


burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2010)

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