Die Hysterie des Westens und die Urangst Chinas

Der Aufstieg Chinas kann nur mit kühlem Kopf gemanagt werden. Hyperventilieren hilft nicht.

Bei China-Beobachtern gilt eine bipolare Störung beinahe schon als Berufskrankheit. In der manichäischen Weltsicht ist für Grauwerte und Zwischentöne wenig Platz: „China – die neue Lokomotive der Weltwirtschaft hat 2008/2009 die Welt vor einem Wirtschaftskollaps bewahrt! China, ein Entwicklungsland, das Herkules-Aufgaben schultert, die Industrienationen erzittern lassen!“ Die zweite Gruppe nicht minder hyperventilierender Schreibtischstrategen tendiert ins andere Extrem: „Die China-Blase wird bald mit einem gewaltigen Knall platzen! Pop!!! China – das Imperium der Zukunft auf Kollisionskurs mit den USA!“

Bevor die Inflation der Ausrufezeichen völlig außer Kontrolle gerät, kehren wir zurück auf den Boden der Realität und versuchen wir einen kühlen Blick auf das Reich der Mitte. Im vergangenen Jahr verschlechterte sich das Klima zwischen den beiden mächtigsten Ländern der Welt: Der China-Besuch von Barack Obama im November 2009 geriet zum Flop. Dann der Eklat bei der Klimakonferenz in Kopenhagen im Dezember 2009 und zuletzt der Internetstreit um Google, in den sich auch Außenministerin Hillary Clinton einschaltete. Der Verkauf von US-Rüstungsgütern im Wert von sechs Milliarden Dollar an Taiwan trifft nun wiederum China ins Herz: China betrachtet Taiwan als abtrünnige Provinz.

Taiwan ist sicherlich das heikelste diplomatische Thema zwischen beiden Staaten: Nach dem Taiwan Relations Act aus 1979 garantieren die USA zumindest indirekt die Sicherheit Taiwans, was von der Volksrepublik China als schwere Einmischung in die inneren Angelegenheiten gesehen wird. Dass US-Präsident Barack Obama nun auch den Dalai Lama, den spirituellen Führer der Tibeter, treffen will, bringt Peking endgültig auf die Palme.

Würde man die chinesische Führung darob als hysterisches Sensibelchen darstellen, machte man es sich zu leicht – auch wenn die letzten Wortmeldungen aus Peking einen gewissen Grad an Hybris und Arroganz erkennen lassen. Zuerst einmal geht es darum, die unterschiedlichen Themen auseinanderzuhalten: Der Streit um die Meinungsfreiheit – besser um den Mangel daran –, der sich zuletzt im Google-Streit manifestiert hat, ist für China wohl der unangenehmste.

Kann sich eine moderne Wissensgesellschaft unter Zensurbedingungen entwickeln? Kann es Innovation in einer Gesellschaft voller Denkverbote und Tabus geben? Wohl kaum. Allein schon, um der grassierenden Korruption Herr zu werden, braucht es eine freche, lebendige Medienlandschaft, mutige Rechtsanwälte und engagierte Bürger. Dass es nach dem Urteil gegen den „Charta 08“ Menschenrechtler Liu Xiabao Solidaritätsadressen ehemaliger hochrangiger Parteikader gab, zeigt die mangelnde Geschlossenheit unter den chinesischen Politeliten bei diesem Thema.

An der Klimaschutzdiskussion bis hin zur Debatte um Tibet und Taiwan wird die chinesische Urangst sichtbar: die Angst vor dem Verlust von Souveränität. Klimaschutz? Ach was, der Westen will so den industriellen Aufstieg bremsen. Tibet, Taiwan? Einmischung! China hat dem Westen bis heute die Opium-Kriege des 19.Jahrhunderts nicht verziehen und sieht das 20.Jahrhundert, das mit der blutigen Niederschlagung des Boxer-Aufstands begann, als „Ära der Schande und Erniedrigung“.

Letztlich bleibt mit kühlem Kopf festzustellen: China und der Westen sind ökonomisch aufs Engste verzahnt. Auch wenn beide Seiten einander politisch nicht grün sind, so bleiben sie wirtschaftliche Partner. Das Klima zwischen Washington und Peking bleibt 2010 frostig. Aber im historischen Rahmen ist das Verhältnis beinahe herzlich: Im Korea-Krieg standen beide Seiten vor einer offenen nuklearen Konfrontation. Im Vietnam-Krieg freute Mao sich diebisch über den hohen Blutzoll der Amerikaner. Die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad im Jahr 1999 durch die USA führte zu diplomatischen Verwerfungen, gegen die die heutigen Unfreundlichkeiten lächerlich wirken.

Dennoch: Der Aufstieg Chinas ist wohl die größte geopolitische Herausforderung für den Rest der Welt und nicht zuletzt für Chinas Führung. Für den Westen ist es entscheidend, den richtigen Ton im Umgang mit Peking zu treffen und Respektlosigkeiten zu vermeiden. Für China gilt: Gibt die Nomenklatura in Peking der Versuchung nach, die nationalistische Karte zu spielen, dann gerät der patriotische Eifer der Fèn Qu?ng“ („Wütende Jugend“) eines Tages außer Kontrolle – eine Entwicklung, die ziemlich sicher ins Verderben führen würde.


thomas.seifert@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.02.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.