Wer versetzt noch die Völker in Staunen?

Die Institution Kirche wird den Missbrauchsmediensturm wohl recht robust überstehen. Aber ob das gut ist?

Mancher Katholik wird an seine Kirche gedacht haben, wenn er in diesen Tagen auf die Schriftstelle des Propheten Jesaja gestoßen ist, die sonst auf Jesus bezogen wird: „Viele haben sich über ihn entsetzt, so entstellt sah er aus . . . Jetzt aber setzt er viele Völker in Staunen, Könige müssen vor ihm verstummen.“ Dass das Bild der Kirche durch die vielen offenbar gewordenen Missbrauchsfälle entstellt ist, wird wohl kaum jemand bestreiten können, und viele Katholiken, die ihre Kirche lieben und die sich mit ihr identifizieren, leiden darunter und können sich nur schwer vorstellen, dass sie einmal wieder Völker in Staunen versetzen wird.

Viele stehen außerdem fassungslos vor einer Häufung von negativen Medienberichten und kritischen Kommentaren, die sie als unfair ansehen: Schließlich kommen Missbrauch und Vertuschung ja wirklich nicht nur im kirchlichen Erziehungswesen vor, sondern auch in staatlichen Schulen und Heimen und in Familien. Manche reden von einer „Kampagne“, also einer planmäßigen, gesteuerten Aktion, deren Ziel es sei, „die Kirche sturmreif zu schießen“.

Doch das wäre zu viel der Ehre. Die Schwere und die Masse der Anschuldigungen in Kombination mit einem kirchenkritischen Zeitgeist und einem auch dem Journalismus nicht fremden Herdenverhalten sind als Erklärung für das Medienphänomen „kirchlicher Missbrauch“ schlüssiger als ein dahinter stehendes Intelligent Design. Das Ganze hat mit einer Kampagne so viel gemein wie eine vorwärtsstürmende Büffelherde mit einer Kavallerieattacke. Angenehm sind freilich beide nicht.

So ein Sturm hat jedenfalls seine fast schon dogmatisch feststehenden Bestandteile. Nach der ersten Faktenwelle treten unweigerlich zwei Sorten von Kritikern auf: die einen, die immer dasselbe sagen, nämlich, dass man wieder einmal sieht, wie die Kirche wirklich ist – und endlich tschüss! Und die anderen, die auch immer dasselbe sagen: Zölibat! Sexualmoral! Frauenpriester! Hierarchie! Geheimnistuerei usw. usf., egal, ob es diesmal passt oder nicht. Auch wenn aufgedeckt würde, dass Pfarrhäuser die größten Klimasünder wären oder die amerikanische Bischofskonferenz in den Kennedy-Mord verstrickt wäre, würde Hans Küng in Tübingen den Zölibat verantwortlich machen und „Wir sind Kirche“ die Tabuisierung der Sexualität. Eine vernünftige Diskussion dann zu führen, wenn es einmal wirklich relevant sein könnte, ist gar nicht so leicht.

Und so ein Sturm hat auch seinen typischen Verlauf und damit sein vorhersehbares Abflauen. Wenn jetzt keine großen Knüller mehr daherkommen (die Anschuldigungen, dass Bischöfe vor Jahrzehnten als junge Erzieher auch schon mal Ohrfeigen ausgeteilt haben, gehören eher nicht dazu), dann war es das auch schon wieder. Einige Zehntausend werden zwar aus der Kirche austreten – die meisten von ihnen ein bisschen früher, als sie es ohnehin getan hätten – und damit die Finanzen beengen, aber die Anmeldungen in kirchlichen Schulen gehen nicht zurück. Der Gottesdienstbesuch nimmt im üblichen Maß ab, und die Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit hat zwar gelitten, aber politischen Einfluss hatten die Bischöfe ja sowieso nicht mehr. Der Veränderungsdruck von innen wie von außen wird nicht höher sein als vorher auch schon, denn es sieht so aus, als würde die Kirche nun das in Missbrauchsfragen in den vergangenen Jahren ohnehin deutlich verbesserte Aufarbeitungs- und Präventionssystem abermals optimieren und damit die Angriffsflächen minimieren.


Ist daher alles noch einmal gut gegangen für eine Kirche, die robuster ist, als viele es wahrhaben wollen? Nein, denn genau diese Stärke ist ihr Problem: Für die äußeren Gegner bleibt die Kirche ein Ärgernis, weil sie eine im Verhältnis zu ihrer wirklichen Gefolgschaft und ihrer tatsächlichen Integrität überproportional große Stellung in der Gesellschaft und einen zu wuchtigen moralischen Anspruch aufrechterhält. Für ihre Kritiker von innen bleibt sie der unbewegliche Apparat, der wieder einmal all das nicht geändert hat, worauf es ankäme, um Gesicht und Gestalt zu wahren.

Aber auch denen, die das Gerede über die Institution satthaben, weil doch die erlösende Botschaft der Kirche das Eigentliche sei, tut die äußerliche Stärke der Kirche im Überstehen der Medien-Stampede nichts Gutes: Sie lässt sie allzu leicht auf die Frage vergessen, wie denn die Kirche eigentlich sein müsste, um wieder die Völker in Staunen zu versetzen und die Könige verstummen zu lassen. Und da geht es möglicherweise noch um viel Radikaleres als bloß die Aufhebung der Zölibatsverpflichtung.

Die katholische Krise (Teil 7 der Serie)Seite 8

Der Kampf um die OpferSeite 20

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.04.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.