Wie viel EU braucht Europa?

Die Eurokrise ruft wieder Herolde einer stärkeren EU-Vertiefung auf den Plan. Etwas mehr Realitätssinn wäre schön. Europa sollte aufhören, von einem Bundesstaat zu träumen, den keiner will.

Wenn Europas Eliten nicht mehr weiterwissen, dann wollen sie die EU meistens vertiefen. Ob dieser Wunsch a) realistisch ist und b) vom Volk gewünscht wird, spielt bei Betrachtungen von Supereuropäern keine Rolle. Denn sie denken nicht nur postnational, sondern längst auch auch postdemokratisch. Einer der beharrlichsten Tiefenideologen ist Jürgen Habermas.

Diesmal nahm Deutschlands berühmtester Philosoph die aktuelle Eurokrise zum Anlass, um in einem Essay für die „Zeit“ auf etwas hinzuweisen, das er für einen „Geburtsfehler“ der EU hält: Die politische Union sei auf halbem Wege stecken geblieben. Niemand könne mehr die Forderung nach einer „europäischen Wirtschaftsregierung“ vom Tisch wischen, dozierte Habermas. Entweder geben wir weitere Rechte zugunsten einer Zentralinstanz auf, oder der Euro ist futsch – das ist die Logik, die Zwangsbeglücker wie Habermas dieser Tage aufbauen.

Kann schon sein, dass der Euro stabiler wäre, wenn Europa eine zentrale Regierung hätte, die eine einheitliche Wirtschaftspolitik betriebe. Vorausgesetzt, es wäre die richtige Wirtschaftspolitik. Nur will diese zentrale Regierung halt kaum jemand, weder die handelnden Politiker noch die Bevölkerung.

Für Habermas ist das ein überwindbares Problem. Die „schlappen Eliten“ müssten nur ordentlich nachhelfen bei der Meinungsbildung. Der Theoretiker des „kommunikativen Handelns“ nennt das „deliberativ gebildete demokratische Willensbildung“. Ähnliches meinen Politiker, wenn sie seit 20 Jahren sagen, man müsse die EU nur besser erklären und dann werde alles gut. Wie solche Versuche enden, konnte man bei diversen Referenden über die EU-Verfassung studieren, die trotz allen argumentativen Aufwands negativ ausgingen. Daraus haben die meisten Regierungen den Schluss gezogen, das Volk künftig gar nicht zu fragen. So viel zur deliberativen Willensbildung. Diese Art von aufgeklärtem Despotismus wird auch nicht freundlicher, wenn er 220 Jahre nach Joseph II. im blauen Sternchenkleid der EU auftritt.

Zu Recht wirft Bernd Ulrich, der Politikchef der „Zeit“, Habermas in seiner Replik vor, ein autoritäres Verständnis von Europa zu haben. Besonders groß ist der Hang zu Notstandsverordnungen intellektueller und anderer Art bekanntlich in Zeiten des Krieges. Umso klirrender klang die „politische Enteignung der Bürger“ (©Hans Magnus Enzensberger), als Frankreichs Europaminister diese Woche zu einer bellizistischen Metapher griff. Der 440-Milliarden-Rettungsschirm, den die EU aufspannte, sei zwar in den Verträgen verboten, entspreche jedoch der Nato-Beistandspflicht im Falle eines Angriffs auf ein EU-Mitgliedsland sagte Pierre Lellouche offenherzig. Klar, im Krieg ist dann offenbar auch ein Rechtsbruch erlaubt, ohne das Volk zu fragen.

Europa braucht keine Vertiefung, sondern mehr Achtung vor den Bürgern und mehr Realitätssinn. Es ist Zeit, die EU als unvollständiges, aber erfolgreiches Wesen zu akzeptieren, als der Idee eines Bundesstaats nachzulaufen, den keiner will.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2010)

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