Missbrauch revisited

Ein halbes Jahr Missbrauchsaffäre: Warum es eine gute Idee wäre, aufs Kirchensteuersystem zu verzichten.

Ein halbes Jahr ist es jetzt her, dass der Rektor des Berliner Canisius-Kollegs einen Brief an ehemalige Schüler verschickt hat, um über zwei missbrauchende Patres in den Jahren 1975 bis 1983 zu berichten. Der damit ausgelöste Flächenbrand hat einige überraschende Aspekte, die eine nähere Überlegung wert sind. Etwa die Frage: Warum ist erst jetzt das Thema Missbrauch so breit und intensiv diskutiert worden und nicht zum Beispiel schon 1995, als der „Fall Groër“ doch auch genug Anlass geboten hätte? Oder 2002, als das Thema in den USA groß gespielt wurde?

Ein Schlüssel dazu ist vielleicht, dass Missbrauch offenbar immer noch ein Tabuthema ist. Etwas, was in der Mitte der Gesellschaft nicht breit thematisiert werden kann. Das hieße, dass die katholische Kirche heute so sehr an den Rand gerückt ist, dass sie nunmehr eine Nische darstellt, in der sich das Thema Missbrauch sozusagen stellvertretend für die Gesamtgesellschaft ohne allzu großen Schmerz abhandeln lässt.

Wie erklärt es sich sonst, dass dieses Thema auf der Eskalationsleiter forsch als katholisches Phänomen fortschreitet, um dann plötzlich haltzumachen, wenn es die letzte Sprosse erreicht, jene der gesamten bürgerlichen Gesellschaft? Jeder weiß, dass sexueller Missbrauch keine kirchliche Spezialsünde ist – aber außerkirchliche Fälle, Vertuschungen und Verantwortlichkeiten werden kaum diskutiert. Ein bisschen Odenwaldschule da, ein bisschen „Profil“-Artikel zu staatlichen Kinderheimen hier, damit hat es sich. Als ob es peinlich wäre, Missbrauch anzusprechen, wenn er nicht hinter Klostermauern passiert. Und die ganze riesige Missbrauchskiste des öffentlichen und privaten Bereichs bleibt unaufgearbeitet.

Das ist natürlich auch Medienversagen und hat auch damit zu tun, dass es allemal würziger ist, einem zur Keuschheit verpflichteten Tugendprediger als einem Buchhalter oder Schulwart etwas nachzuweisen. Aber es zeigt eben auch, dass Kirche heute für die Gesellschaft mehr eine Fremde als eine Heimat darstellt.

Damit hat auch der zweite überraschende Aspekt zu tun, nämlich die Tatsache, dass die Missbrauchskrise eben nicht zu einem Massenexodus aus der Kirche geführt hat. Wenn es bei den für Österreich erwarteten 80.000 Austritten bleibt, dann wird die katholische Kirche hierzulande gerade einmal 1,45 Prozent ihrer Mitglieder verloren haben. Das ist ein Rekord – und nach jedem irdischen Maßstab lächerlich wenig. Der ÖGB, ebenfalls eine stark identitätsstiftende Institution, verliert solche Prozentsätze in ganz normalen Jahren. 2006, nach dem Bawag-Skandal, gar 4,75 Prozent.

Dieses Festhalten an der Kirchenmitgliedschaft ist umso erstaunlicher, als wir aus Umfragen wissen, dass die große Mehrheit der Kirchenmitglieder nicht einmal die elementarsten katholischen Glaubenssätze teilt, geschweige denn am Gemeindeleben teilnimmt, in die Kirche geht oder außerhalb von Lebensgefahr betet. Ihnen kann die Kirche nicht viel bieten – trotzdem bleiben sie und zahlen. Eine Lieblingsthese von Religionssoziologen stimmt also offenbar nicht: dass nämlich die „Kirchlichkeit“ heute stark ab- und die „Suche nach Spiritualität“ zunehme. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Kirche ohne spirituelles Interesse scheint das weitaus größere Massenphänomen als Spiritualität ohne Kirche zu sein.

Es stimmt übrigens auch offensichtlich nicht, dass katholische Eigenheiten wie der Zölibat dafür verantwortlich sind, dass tiefgläubige Menschen die katholische Kirche in Scharen verlassen. Denn Übertritte in andere Kirchen, die Christentum ohne Zölibat, aber mit Frauenpriestertum und der Ermutigung zur Pille bieten, sind ungefähr so verbreitet wie Lottogewinne. Knapp 800 Personen sind etwa im Vorjahr in die großen evangelischen Kirchen eingetreten.


Dass die Kirchentreue so viel stärker ausgeprägt ist als der Glaube selbst, ist weder für die katholische Kirche noch für die Gesellschaft eine besonders entspannende Nachricht. Der Transformationsprozess von einer staatsmonopolistischen Religionsgouvernante zu einer bloßen Glaubensgemeinschaft wird dadurch erschwert und verzögert. Außerdem steht damit weiterhin das Unbehagen von Hunderttausenden an einer Kirche, von der sie trotz innerer Ferne doch nicht loskommen und loskönnen, als eine Art unbewältigter Vaterkonflikt zwischen ihnen und der Lehre vom erlösenden Gott, die doch das eigentliche Selbstverständnis der Kirche ist.

Eine unerwartete, aber logische Folge des Missbrauchsskandals wäre daher, dass die Kirche das Dilemma auch dadurch aufzulösen versucht, dass sie die letzten Reste obrigkeitlicher Anmutung aufgibt. Ein Anfang wäre etwa, auf das Kirchensteuersystem zu verzichten. Ich weiß, das sagt sich so leicht – aber sonst hört der Krampf ja nie auf.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.07.2010)

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