Brüssel hat das Verfahren gegen Paris abgeschwächt und damit europäische Grundprinzipien gebrochen.
Wir sind Zeugen und Beteiligte eines Machtkampfs in Europa“, schreibt der streitbare Ex-Brüsseler Johannes Voggenhuber in seinem eben erschienenen Buch „res publica“. Und er setzt fort, als ob er die aktuellen Ereignisse rund um das abgemilderte Verfahren der EU-Kommission gegen Frankreich vorweggenommen hätte. „Es geht um Demokratie, gegen das Machtkartell der nationalen Exekutiven.“ Voggenhuber geißelt in diesem Buch erneut den nationalen Einfluss auf die per Definition unabhängigen EU-Institutionen und verweist damit auf die derzeit größte Wunde der Union.
Nach der Entscheidung der EU-Kommission zur Massenabschiebung der Roma ist die kapitale Frage zu stellen: Sind die EU-Institutionen wirklich noch Garant für ein faires Nebeneinander der EU-Staaten, oder sind sie von den mächtigen Mitgliedstaaten so weit infiltriert, dass sie nur noch schemenhaft handeln können – mit einem Kompromiss zwischen Recht und Unrecht? Allein, dass die Entscheidungsfindung der Brüsseler Behörde an diesem Mittwoch so lange dauerte, war ein Hinweis auf die Ängstlichkeit, mit der die EU-Kommission derzeit auf Vertragsverletzungen großer Staaten reagiert. Dass Paris letztlich mit einem abgeschwächten Rüffel davongekommen ist, zeichnet ein noch düstereres Bild. Obwohl Frankreich nun dafür zur Verantwortung gezogen wird, dass es die Freizügigkeit von EU-Bürgern einschränkt, bleibt sein rassistisches Vorgehen gegen Roma schlicht ungestraft.
Frankreich kann, weil es kann. Die EU-Kommission kann nicht, weil sie schwach ist. Sie hat gegenüber einem wichtigen, großen Mitgliedstaat einen Rückzieher gemacht. Frankreich hat interveniert, Präsident Sarkozy hat gepoltert: Letztlich haben Kommissionspräsident José Manuel Barroso und sein Team klein beigegeben. Der zweifellos notwendige Vorstoß der Luxemburger Justizkommissarin Viviane Reding, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Paris auch wegen der ethnischen Diskriminierung von Roma einzuleiten, wurde abgeschmettert. Das Land, in dem der Grundstein für das Prinzip der Egalität gelegt wurde, darf offenbar die Gleichheit vor dem Recht selbst zu Grabe tragen. Brüssel sieht darüber hinweg, dass es Anweisungen aus dem französischen Innenministerium gegeben hat, explizit Roma aufzugreifen und abzuschieben. Es sieht auch darüber hinweg, dass es hinsichtlich dieses Faktums von der französischen Führung belogen wurde. Und es verdrängt völlig, dass diese Aktion nur ein mieses innenpolitisches Ablenkungsmanöver eines politisch angeschlagenen Präsidenten war. Dass es sich bei den Opfern, den ungeliebten Roma, um EU-Staatsbürger handelt, die jetzt ganz offiziell diskriminiert werden dürfen, ist für die EU-Kommission offenbar ein hinzunehmender Kollateralschaden an den europäischen Grundrechten.
Die EU ist tatsächlich auf einem Auge blind. Dann nämlich, wenn es um Verstöße der großen Mitgliedstaaten geht. Das war bereits in der Vergangenheit so, als etwa Frankreich und Deutschland den Euro-Stabilitätspakt brachen. Zuvor war wegen des gleichen Verstoßes gegen Irland ein Verfahren eingeleitet worden. Doch für Paris und Berlin blieb der Rechtsbruch ohne Konsequenz. Damals freilich wurde die EU-Kommission von den EU-Regierungen überstimmt. Diesmal ist es gar nicht so weit gekommen. Die Brüsseler Ordnungshüter, deren Aufgabe es ist, das gemeinsame Recht zu schützen, haben sich vorab vergewaltigen lassen. Sie sind zur Lachnummer geworden, weil sie zuerst ein Verfahren gegen Frankreich angekündigt, sich dann aber nach heftigen Interventionen in einem so wichtigen Punkt wie dem Prinzip der Nichtdiskriminierung zurückgezogen haben.
Spätestens seit diesem Mittwoch besteht die große Gefahr, dass die EU-Kommission den Blick auf das Wesentliche verliert. Wenn sie nicht mehr fähig ist, gemeinsames Recht durchzusetzen, erschüttert sie die Glaubwürdigkeit der gesamten Union. Die politische Entwicklung der letzten Monate, in denen beispielsweise rund um die Finanzkrise nur noch zwei Länder – Deutschland und Frankreich – den Ton angegeben haben, wird in Brüssel als Faktum akzeptiert. Es ist nebensächlich geworden, ob Recht und Gerechtigkeit machtpolitisch zersetzt werden. Kommissionspräsident José Manuel Barroso ist eine Marionette geworden, die sogar dort Kompromisse eingeht, wo es keine Kompromisse geben darf: bei der Gleichheit vor dem Recht für jeden EU-Bürger, aber auch für jeden Staat.
Barrosos Rückzieher Seite 1
Warum die Roma-Hilfe nicht ankommt Seite 2
("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.09.2010)