Meinung: Zukunftsvernichtung im Namen unserer Kinder

Seit Langem folgt die Bildungspolitik dem Motto: Wer studiert, ist selbst schuld. Exzellenz ist ein Lippenbekenntnis. Schlechte PISA-Werte passen da gut ins System.

Unser ältester Sohn studiert nicht nur Jus, sondern auch Skandinavistik. Weil er in seinem Zweitstudium nicht in der vorgeschriebenen Zeit geblieben ist, muss er die volle Studiengebühr zahlen. Selbst schuld, warum begnügt er sich nicht mit einem Studium?

Seine Schwester hat ihr Erststudium erst nach drei Semestern aufgegeben und bekommt daher als nunmehrige Fachhochschulstudentin keine Familienbeihilfe – und ist deswegen auch nicht mehr krankenversichert (hier, nicht in den USA). In ihrem ersten Studium wurden die Plätze für ein überbuchtes, aber für den Studienfortgang entscheidendes Seminar in einer Mischung aus Lotterie und Versteigerung vergeben, bei der sie den Kürzeren zog – weshalb ihr nun auch ein Sozialstipendium verwehrt ist. Dass sie während ihres Erststudiums einen Halbtagsjob hatte und dem Staat weder bei Mitversicherung noch bei der Kinderbeihilfe auf der Tasche lag, wird nicht berücksichtigt. Selbst schuld, warum hat sie auch arbeiten gehen müssen?

Ein anderer Sohn wurde per 1. Jänner zum Präsenzdienst einberufen. Weil er nicht herumsandeln wollte, hat er schon im Oktober davor inskribiert. In der Prüfungssaison war er aber schon beim Heer, weshalb dieses erste Semester jetzt als verbummelt gilt und ihm noch auf den Kopf fallen kann. Selbst schuld, warum ist er auch so lernbegierig?

Alle drei wollen übrigens mit dem Doktorat bzw. Mastergrad abschließen. Sie werden also mit 24 nicht fertig sein. Ich werde sie dann weiterhin finanzieren müssen und trotzdem genauso viel Steuern zahlen wie jemand, der diese Verpflichtung nicht trägt. Denn der ursprünglich dafür eingeführte Ausgleich – die Kinderbeihilfe – wird gestrichen. Selbst schuld, warum habe ich sie auch Bildungsehrgeiz gelehrt? Dass meine Kinder keinen Anspruch auf Sozialstipendien haben, versteht sich von selbst. Das entsprechende Gesetz ist ein mathematisches Wunder: Laut ihm würde mein Gehalt dazu ausreichen, jedes Kind mit dem vierfachen Betrag dessen zu unterstützen, was ich tatsächlich zur Verfügung habe.

Es würde mich dabei gar nicht stören, meine Kinder selbst zu erhalten, und ich zahle ihnen auch gern das Studium – aber das kann ich kaum, weil mir der Staat 40 Prozent meines Einkommens wegnimmt.

Das ist nur eine kleine Detailaufnahme aus bloß (m)einem einzelnen österreichischen Haushalt – wie groß muss wohl die ganze Fülle der Vertrotteltheiten unseres Sozial- und Bildungssystems sein? In Konfrontation mit solchen Realitäten zerschellt der hehre Anspruch der Regierung kläglich, auf die Wissensgesellschaft zu setzen. Wenn die neuesten PISA-Ergebnisse wieder einmal unterdurchschnittlich sind, soll sich niemand aufregen. Wir wollen ja offenbar gar nicht exzellent sein. Alles an der gegenwärtigen Universitätspolitik signalisiert: Wer studiert, ist selbst schuld. Nur wer wirklich felsenfest entschlossen ist, Akademiker zu werden, wird es denn auch versuchen. So wird zementiert, dass die bildungsferneren Milieus bildungsferner bleiben. Und wie nett, dass die ÖVP nun anregt, an den Schulen „High Potentials“ zu erkennen und zu fördern – um sie dann von den Universitäten zu vergraulen?

Seit der Einführung der Fachhochschulen vor 17 Jahren ist der Bildungspolitik nicht nur keine wichtige Neuerung mehr gelungen, sondern sie hat auch das Bestehende verschlampt. In Kombination mit den Versäumnissen der Schulpolitik ein Totalversagen der Großen Koalition, mit dem sie der Zukunft unserer Kinder weit mehr geschadet hat, als sie ihr jetzt mit ein paar Budgetbehübschungen zu nützen behauptet. Längst müsste eine Generalreform im Gange sein, die sich der Verlogenheit des angeblich freien Hochschulzugangs annimmt – einer Fiktion, die zu einem unterentwickelten Stipendien- und Studienkreditsystem geführt und außerdem die Universitäten an den Rand der Pleite gebracht hat, die in vielen Studiengängen kein zügiges Studieren mehr ermöglicht, die am immer skurrileren Sozialsystem für Studierende Schuld trägt.

Aber wenn eine Regierung den Eltern das Geld aus der Tasche zieht, angeblich, um die Zukunft ihrer Kinder zu sichern, damit aber nur Murks baut – und sich dann der Verantwortung für die kommende Generation rühmt, dann ist das eine Verhöhnung, die sich Eltern und Kinder nicht verdient haben.

E-Mails an: michael.prueller@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2010)

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