Eine Dissertation ist kein Aufsatz, sondern eine Arbeit

Was man aus dem Fall des deutschen Ministers zu Guttenberg lernen kann: Eine Doktorarbeit muss der wissenschaftlichen Forschung dienen.

Nein, das tut man nicht. Es gehört sich nicht, was der deutsche Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg ganz offensichtlich in seiner Doktorarbeit getan hat. Man zitiert nicht ohne Anführungszeichen, man kopiert keine fremden Texte in seine eigenen. Wer das tut, schreibt sich Formulierungen zu, die ein anderer gedrechselt hat. Das ist eine Anmaßung, die eines Akademikers nicht würdig ist. Und ja, es ist sogar ein Betrug.

Aber ist es ein Betrug, der zur Erlangung der Doktorwürde notwendig war? Hat sich zu Guttenberg durch seine freche „Copy and paste“-Praxis seinen akademischen Titel erschlichen?

Die Antwort hängt stark davon ab, was man von einer Dissertation erwartet. Wenn man sie als eine erweiterte Form der Erörterung oder des Besinnungsaufsatzes à la Gymnasium sieht, dann ist das Übernehmen fremder Formulierungen gewiss ein bedenklicher Betrug, ähnlich dem „Abschreiben“ bei einer Schularbeit. Denn in einem solchen Aufsatz kommt es vor allem auf den „Ausdruck“, auf die originellen Formulierungen an. (Und womöglich auch auf Rechtschreibung und Beistrichsetzung.)

Eine Dissertation sollte aber etwas ganz anderes sein: nämlich eine wissenschaftliche Arbeit. Und das ist, salopp gesagt, ein Bericht über geleistete wissenschaftliche Forschung. Über Forschung, die neue Fragen gestellt und neue Antworten erbracht hat. Nicht nur neue Formulierungen.

Eine solche Dissertation ist auch etwas wert. Sie verstaubt nicht nach der Promotion in einem Archiv, sie wird von Kollegen in In- und Ausland gelesen, aus ihr wachsen Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften, vielleicht sogar ein Buch. Sie ist, pathetisch gesagt, ein Stein im Bauwerk einer wissenschaftlichen Disziplin. Auf ihr bauen andere Dissertanten, andere Forscher auf. Sie liegt nicht brach.

Das geht aber nur, wenn der Dissertant – bei aller Eigenständigkeit und Originalität – seine Arbeit in einen größeren Zusammenhang stellt, mit Kollegen zusammenarbeitet und diskutiert, nicht erst nach zwei einsamen Jahren am Schreibtisch bei seinem Doktorvater vorspricht. In den Naturwissenschaften, ob in Deutschland oder Österreich, ist diese Einbindung in ein Team ganz normal. Das bedeutet aber auch den Verzicht auf einen Anspruch, der in den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften noch weit verbreitet ist: den der völlig freien Themenwahl.

Ein hehrer Anspruch, vielleicht. Aber kein sinnvoller. Denn der oft – und zu Recht – beklagte Mangel an Betreuung liegt ja genau daran, dass viele Dissertationen (und auch Diplomarbeiten) dem „Betreuer“ herzlich egal sind, weil sie nichts mit seiner Forschung zu tun haben, weil dieser auch nicht vorhat, das Thema der Arbeit jemals weiterzuverfolgen. Weil er sich bei der Lektüre nicht wie ein Forscher fühlt, der neugierig liest, was ein jüngerer Kollege erarbeitet hat, sondern wie ein Lehrer, der den Aufsatz eines Schülers zu benoten hat. Die fatale Spaltung in Lehre und Forschung auf den Universitäten, hier gipfelt sie.


Karl-Theodor zu Guttenberg, dieser zielstrebige, stets auf seine Karriere bedachte Mann, habe eben nicht viel Zeit erübrigt für die lästige Pflicht seiner Dissertation: Diese Sicht liest man aus etlichen Analysen – die dem Minister, freilich ohne das klar zu sagen, im Grunde recht geben. Zeitmanagement nennt man das heute gern. Und pragmatisch gesehen hat zu Guttenberg auch richtig gehandelt: Wozu soll man sich eigene Gedanken machen, wozu soll man gar eigene Sätze formulieren, wenn das Werk in ein paar Wochen ohnehin niemanden mehr interessiert?

Diese Geringschätzung darf nicht einreißen. Eine Dissertation hat nicht die Erledigung einer lästigen Pflicht zu sein. Darum muss man Kontrolloren wie Stefan Weber, so unangenehm pedantisch und denunziatorisch sie wirken mögen, danken. Sie arbeiten dafür, dass Dissertationen etwas wert sind, dass die Lebenszeit, die man für sie braucht, nicht vergeudet ist. Und damit auch dagegen, dass die Unis fade Lehranstalten werden, an denen nebenbei halt ein bisschen geforscht wird. Das ist viel wichtiger als fehlende Anführungszeichen. Aber diese eignen sich offenbar ganz gut als Indikator.

E-Mails an: thomas.kramar@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.02.2011)

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