Heute Tripolis, morgen Baku: Europas moralischer Spagat

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Die arabischen Revolutionen lassen Europas Politiker den Wert der Menschenrechte erkennen. Bei anderen Diktaturen drücken sie weiterhin beide Augen fest zu.

Leitartikel

Vergangenen Dienstag fand José Manuel Barroso, der Präsident der Europäischen Kommission, in Straßburg schöne Worte: „Unser Platz ist aufseiten jener, die politische Freiheit und Respekt für die menschliche Würde einfordern“, sagte er im gähnend leeren Sitzungssaal des Europaparlaments. Barroso bezog das auf die Revolutionen in Nordafrika. Europa wolle nur noch jene Regierungen unterstützen, die aus freien, fairen und international überwachten Wahlen hervorgehen und sich zu den Menschenrechten bekennen. Darauf werden sich heute auch die Staats- und Regierungschefs der EU einigen.

Vier Zeitzonen weiter östlich, in einem Polizeigefängnis in Aserbaidschans Hauptstadt Baku, wird diese neue politische Linie der EU einer konkreten Prüfung unterzogen. Dort sitzen seit einigen Tagen mehrere jugendliche Oppositionelle in Haft. Sie hatten auf der Online-Plattform Facebook für heute, Freitag, zu einer Demonstration in Baku gegen das Regime unter Präsident Ilham Alijew aufgerufen – ganz nach dem Vorbild jener Revolutionen, welche die Regime in Tunis und Kairo gestürzt hatten.


Aserbaidschan: Was ist das für ein Land? In Österreich kennt man die ehemalige Sowjetrepublik am Kaspischen Meer nur als jenes Land, von dem Wohl und Wehe der Erdgas-Pipeline Nabucco abhängt, dem Prestigeprojekt der OMV. 2009 importierte die Union Öl, Gas und sonstige Rohstoffe im Wert von 7,2 Milliarden Euro aus dem Neun-Millionen-Einwohner-Land. Sonst fast nichts. Aserbaidschan ist ein Petro-Staat wie Libyen.

Und das ist nicht die einzige Parallele mit den arabischen Autokratien, die seit Wochen wanken. Präsident Alijew regiert sein Land nicht, er beherrscht es. Seit acht Jahren ist er im Amt. Er folgte seinem Vater Heydar, der 1944 dem KGB beigetreten war und seit 1969 die aserische Abordnung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion geführt hatte.

Dementsprechend sieht es dort für jeden aus, der Zweifel am politischen Familienbetrieb der Alijews äußert. Im Februar 2010 erstellte das Bildungsministerium Strafanzeige gegen den Mathematiker Alovsat Osmanli. Sein Verbrechen: Er hatte Fehler in den Mathe-Schulbüchern kritisiert. Doch das ist nur eine absurde Veranschaulichung dieses Totalitarismus. Dissidenz bringt in Aserbaidschan Prügel. Oder Schlimmeres. „Weitverbreitete Folter und Misshandlung in Haft dauern straflos an“, hält die Organisation Human Rights Watch fest.


Soll man so eine Regierung isolieren? Unmöglich. China, die Türkei und andere aufstrebende Mächte stehen als Verbündete bereit. Zudem lehrt uns der Erfolg der vorsichtigen Annäherung Westeuropas an die UdSSR ab Beginn der 1970er-Jahre, dass man Diktaturen durch die Pflege zahlreicher persönlicher Kontakte und gemeinsame Abkommen in die Knie zwingen kann. Die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ab 1975 beflügelte mit ihrem Kapitel VII über Menschenrechte und Grundfreiheiten Dissidenten von Prag bis Moskau. Europas Nachbarschaftspolitik für den östlichen und südlichen Rand der EU folgt genau diesem Vorbild.

Nur müssen sich die Europäer stets vor Augen führen, was das Ziel all der Assoziierungsabkommen, Partnerschaften und Aktionspläne ist. Nämlich die Einführung jener Spielregeln für das Verhältnis zwischen Bürger und Staat, auf der die EU fußt: Rechtsstaatlichkeit, Gewaltentrennung, freie Wahlen, Gewissens-, Versammlungs- und Religionsfreiheit, Folterverbot. Die muss man offen fordern, und man muss diskret, aber beharrlich an ihrer Einführung arbeiten.

Die Kommission und an ihrer Spitze Barroso bekunden zwar, dies zu tun. Sehr glaubwürdig wirken sie aber nicht, wenn Barroso heuer im Jänner den Ehrendoktor der Universität Baku annahm und dabei Heydar Alijew als „Vater der Nation“ Tribut zollte, während er die Menschenrechte nur en passant streifte.

„Sei nicht ohne Hoffnung in der Stunde der Not; denn kristallener Regen fällt aus schwarzen Wolken“: Hoffentlich hat Barroso den inhaftierten Facebook-Aktivisten mehr zu bieten als diese Zeilen des Dichters Nizami Ganjavi, mit denen er an der Uni Baku sein Interesse an diesem schönen Land unterstrich.

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.03.2011)

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