Die Katastrophenpsychologie und das große Prophezeien

Es gehört zur menschlichen Natur, alles infrage zu stellen oder alles zu affirmieren. Im Nachhall einer Katastrophe besonders. Aber bringen tut es nichts.

Normal reagiert nach einer solchen Katastrophe niemand. Die besondere Ruhe der Tokioter Bevölkerung oder der Überlebenden in den Küstengebieten ist nicht weniger ein Symptom der Krisenpsychologie wie die erstaunten Fragen aus weiter Entfernung, wieso bloß die Leute dort nicht in Panik verfallen (worauf im ORF doch tatsächlich die Antwort gegeben wurde, dass sich in Japan die jungen Leute eben nicht für Politik und soziale Zusammenhänge interessierten). Im Nachhall einer Katastrophe sind die Menschen offenbar vorwiegend entweder aufgeregt oder gedämpft bis zur Apathie. Und den einen fällt es schwer, die anderen zu verstehen.

In Japan mag dazu auch der hohe kulturelle Wert der stoischen Ruhe kommen. Man wird dort eben dazu erzogen, nicht das Gesicht zu verziehen. Dazu kommt auch ein komplizierter Ehrbegriff, der es nicht leicht macht, Unvermögen einzugestehen und um Hilfe zu bitten. Vielleicht lässt sich damit vieles sonst Unverständliches verstehen: Warum die Regierung erst am fünften Tag nach dem Beben das amerikanische Militär um Hilfe bittet und eigene Reservisten mobilisiert. Oder warum unser Reporter in Japan mit eigenen Augen mehr Leichen in den verwüsteten Ortschaften sieht, als man ihm dort an Opferzahlen meldet. Oder warum vermeintlich Selbstverständliches erst jetzt angegangen wird, etwa mit Bulldozern die Zufahrten zu einzelnen Gebäuden des Kraftwerks Fukushima freiräumen zu wollen.

Die Wirklichkeit in einer Dreifachkatastrophe ist komplizierter, als wir uns das überhaupt vorstellen können. Und auf seine Hilflosigkeit im Angesicht dringender Not reagiert der Mensch mit Aufregung oder eisiger Ruhe. Auch wir hier, die wir alles irgendwie mitbekommen, aber nichts, gar nichts Relevantes tun können – außer, wenn man der frommen Fraktion glaubt, zu beten. Nicht einmal Spenden ist derzeit ein Mittel, um sich wirksam einzubringen, denn Geld löst derzeit kein einziges Problem in Japan.

Im deutschsprachigen Raum kommt etwas dazu: Hier hat die Haltung zur Atomkraft ohnehin schon etwas geradezu Religiöses, Bekenntnishaftes. Die latente Empörung über die Verblendung der jeweils anderen ist nun von den Ereignissen in Japan aktiviert worden. Wer nun postuliert, dass es in der Atomfrage Abwägungen geben könnte, weil auch der Verzicht Probleme brächte, gilt den einen schon als zynischer Befürworter. Wer sagt, dass man aber über einen Ausstieg sehr wohl vernünftig nachdenken sollte, ist für die anderen schon ein Umfaller.


Den betroffenen Japanern nützt diese Diskussion gegenwärtig natürlich gar nichts. Die Gunst der Stunde winkt anderen: Angela Merkel hat etwas politisches Kleingeld mit der Abschaltung von sieben AKW machen können (ihre Behauptung, das würde die Versorgungssicherheit nicht gefährden, stimmt natürlich nur, weil keine andere europäische Atommacht sich dasselbe Recht herausgenommen hat). Und noch mehr profitieren derzeit jene, die sich aus dem Blickpunkt der Weltöffentlichkeit fortstehlen konnten. Dass es plötzlich keinen sonderlich aufregt, dass Muammar al-Gaddafi gerade dabei ist, seine Tyrannei über Libyen wieder komplett zu machen, gehört auch zur typischen Katastrophenpsychologie.

Wir werden in den nächsten Tagen noch mehr davon erleben – das ganze Spektrum zwischen Angstlust und Katastrophengeilheit auf der einen Seite und scheinbar teilnahmslosem Abwiegeln auf der anderen. (Die Strafe-Gottes-Kiste ist ja wenigstens schon abgehakt, der Tea-Party-Moderator Glenn Beck konnte sich nicht zurückhalten.) Wir Medien müssen uns bewusst sein, dass wir diesen psychologischen Ausnahmezustand nicht nur reportieren, sondern auch mitproduzieren. Wir in dieser Zeitung wollen dem auch dadurch begegnen, dass wir uns weiterhin nicht am großen Prophezeien beteiligen wollen, das derzeit läuft. Egal, ob es um den Ausgang der Fukushima-Tragödie geht oder die Zukunft der Atomkraft im Allgemeinen, um das Ausmaß der Schäden in Japan und die Zeit, die das Land zum Wiederaufbau brauchen wird, oder um die Frage, ob nichts so sein wird wie bisher oder bald wieder alles gleich. In einigen Wochen kann darüber vernünftig geurteilt werden. Derzeit ist das nur nutzloses Gegacker.

E-Mails an: michael.prueller@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.03.2011)

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