Silvio Berlusconi und Europas Multi-Organversagen

Italiens Krise ist ein drastisches Beispiel dafür, wie dysfunktional politische Systeme geworden sind. Sie sind nicht mehr fähig, grundlegende Probleme zu lösen.

In der großen Krise unterliegen Europas Regierungschefs einer ähnlichen Schwerkraft wie Fallobst. Ein Premier nach dem anderen stürzt aus lichten Höhen – von Irland über Portugal, Slowenien und die Slowakei bis Athen.

Und nun scheinen auch Europas Polit-Houdini seine Entfesselungskünste nicht mehr zu helfen: Italiens Spaß-Premier Silvio Berlusconi manövrierte zwar seinen Rechenschaftsbericht durchs Parlament, aber auch nur deshalb, weil sich die Opposition aus Staatsräson der Stimme enthielt. Aus eigener Kraft brachte der Cavaliere keine Mehrheit mehr zustande. Das Signal war unmissverständlich: Berlusconi soll gehen.

Schon davor zerfiel seine Koalition wie Parmesan. Der eine Partner, der geläuterte Neofaschist Gianfranco Fini, lief dem 75-jährigen Operettenpolitiker im Sommer des Vorjahres davon. Der andere, der polternde Lega-Nord-Chef Umberto Bossi, forderte am Dienstag offen, dass Berlusconi weichen möge.

Von der Notwendigkeit, weiter regieren zu müssen, war am Schluss nur noch Silvio Berlusconi überzeugt. Der Rest des Landes und Europas sehnte den Rücktritt des Gauklers wie eine Erlösung herbei. Seit Jahren hat Berlusconi sich und Italien mit seinen Sexaffären und Skandalen weltweit zum Gespött gemacht. Schlimmer noch wiegt, dass er die drittgrößte Volkswirtschaft Europas sehenden Auges in den Abgrund geführt und damit die gemeinsame Währung der EU akut gefährdet hat.

Ist Italien bankrott, dann reißt der Euro-Rettungsschirm, auch wenn er noch so kunstvoll gehebelt ist. Mehr als 6,7 Prozent Zinsen musste das Belpaese am Dienstag für seine Anleihen mit zehn Jahren Laufzeit blechen. Im Grunde sind die Schulden, die 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen und doppelt so hoch sind, wie laut Maastricht-Kriterien erlaubt, nicht mehr finanzierbar. Längst fließt Kapital aus Italien ab. Die Unternehmer, einst Förderer des Medien-Tycoons, sind auf den Barrikaden. Berlusconi, dem obersten Realitätsverweigerer des Landes, traute am Ende niemand mehr zu, die Notbremse zu ziehen. Deshalb soll nun der Internationale Währungsfonds über die nötigen Konsolidierungsmaßnahmen wachen. Italien ist entmündigt. Welche Schande für das Land. Da wäre es absurd, wenn ausgerechnet der am Rande der Unzurechnungsfähigkeit agierende Zotenreißer an der Spitze der Regierung fröhlich weitermurksen könnte. Irgendwann einmal muss auch für Berlusconi genug sein.

Doch so laut das Aufatmen über dessen nahenden Abschied sein mag, den der Cavaliere Dienstagabend schließlich doch ankündigen musste, die Probleme am Tiber sind damit längst nicht gelöst. So wie andere Länder Europas leidet Italien unter einem Multi-Organversagen: Durch die Finanzkrise sind die seit Jahren erkennbaren und beharrlich verdrängten Symptome nur deutlicher zum Vorschein gekommen. So wie andere lebt Italien über seine Verhältnisse, leistet sich einen Wohlfahrtsstaat, den es allein aus demografischen Gründen nicht mehr lange finanzieren kann.

Europas politische Systeme sind dysfunktional geworden. Das heißt: Sie sind nicht mehr in der Lage, grundlegende Probleme zu lösen, weil sie sich in Sonderinteressen verheddern, unter dem kurzsichtigen Diktat von Meinungsumfragen agieren und sich so selbst lähmen. Das ist ein ernstes Problem, weil dadurch das Vertrauen in liberale Demokratien erschüttert werden kann.

Der Ruf nach Expertenregierungen, der zwischen Athen und Rom erschallt, ist ein Zeichen für diese tiefe Verunsicherung. Berufspolitikern wird die Fähigkeit abgesprochen, zu regieren und das Notwendige zu tun. Fachleute sollen übernehmen. Solche Technokratenkabinette können ganz gut funktionieren, wie Gordon Bajnai in Ungarn bewiesen hat. Sie taugen jedoch nur für eine kurze Übergangsperiode, weil sie einen gravierenden Mangel haben: Sie sind nicht demokratisch legitimiert.

Europa muss in dieser Krise nicht nur seine Schulden- und Wirtschaftspolitik ernsthaft überdenken, sondern auch seine politischen Systeme selbst. Neues und demokratisch Tragfähiges wird dabei jedoch nur entstehen, wenn die Bürger das Nachdenken und vor allem das Handeln nicht ausschließlich an Politiker oder Experten delegieren.

E-Mails an: christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2011)

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