Die nordkoreanische Anomalie kann nicht ewig bestehen

Ohne Wirtschaftsreformen kann Nordkorea nicht überleben. Sobald sich das Land jedoch öffnet, wird das bizarre totalitäre System schnell zusammenbrechen.

Kim ist tot, lange lebe Kim. Das spezielle nordkoreanische Herrschaftsmodell einer kommunistischen Familiendiktatur geht in die dritte Generation. Die Erbfolge hatte der „Liebe Führer“ Kim Jong-il schon vor seinem Tod geregelt. Dementsprechend reibungslos schien sie am Montag über die Bühne zu gehen. „Großer Nachfolger“ wird Kim Jong-un, der dritte und jüngste Sohn des verstorbenen Diktators. Die „Arbeiterpartei“ vertraute sich in einem Kommunique umgehend der Führung des jungen „Genossen“ an.

Kim Jong-un, der um die 29 Jahre alt ist (ganz genau weiß man nicht einmal das), hatte knapp drei Jahre Zeit, sich auf den Job vorzubereiten. Der Herr Papa begann nach einem Schlaganfall im August 2008, sein Haus zu bestellen.

In diktatorischen Systemen bergen Phasen des Übergangs immer auch – je nach Sichtweise – erhöhte Risken oder Chancen in sich. Die Übertragung der Macht auf Kim Jong-un dürfte gut vorbereitet worden sein. Er hat, wie es heißt, nicht nur die Partei hinter sich, sondern vor allem auch seinen Onkel, den mächtigen Sicherheitschef Chang Sung-taek.

Erste Anzeichen deuten jedenfalls nicht auf Diadochenkämpfe innerhalb der Militärführung hin. Aber das ist letztlich alles Spekulation. Wer als Außenstehender über Nordkorea berichtet, ist auf bruchstückhafte Informationen angewiesen, die sich auf die eine oder andere Weise zusammensetzen lassen. Es gibt auf diesem Planeten kein Land, das abgeschotteter oder intransparenter wäre.

Orientierung geben jedoch Erfahrungen der Vergangenheit. Und da bildeten sich Muster heraus, die vermutlich auch Kim Jong-un nicht so leicht durchbrechen kann und wird: Oberstes Ziel des nordkoreanischen Systems ist der Machterhalt. Und dabei geht die Führung buchstäblich über Leichen. Millionen Menschen fielen allein Ende der 1990er-Jahre Hungersnöten zum Opfer. Für das Militär und den Bau von Atombomben war jedoch immer genug Geld da, denn damit sichert das Regime sein Überleben. Raketen- und Atomtechnologie ist der einzige Exportschlager dieses Staates – und auch die einzige außenpolitische Karte, die der verstorbene Diktator bei all seiner Exzentrik brillant gespielt hat.

Immer wieder ließ sich Kim Jong-il in Verhandlungen Scheinzugeständnisse abkaufen, um dann doch weiter heimlich an der Atombombe zu bauen. Mittlerweile hat das Regime nach Schätzungen von Geheimdiensten Material für acht Nuklearsprengköpfe beisammen und auch die nötigen Raketen dafür. Dadurch und mit seiner zur Schau gestellten aggressiven Unberechenbarkeit hat das Regime einen Sicherheitsschirm aufgespannt, der es vor militärischen Interventionen bewahrt. Mindestens ebenso viel Schutz bietet die Allianz mit China, das den verstorbenen Diktator Nordkoreas am Montag ohne Anflug eines kritischen Tons als großen Führer würdigte und sich hinter Kim Jong-un stellte. Die vielleicht effizienteste Versicherungspolice Nordkoreas ist jedoch seine Schwäche: Sowohl China als auch Südkorea fürchten einen abrupten Zusammenbruch des Regimes, der Flüchtlingsströme, Unsicherheit und hohe Kosten mit sich brächte.

Und doch ist es nur eine Frage der Zeit, bis das System kollabiert. Eine historische Anomalie, wie sie Nordkorea 22 Jahre nach Ende des Kalten Krieges immer noch darstellt, kann nicht ewig bestehen bleiben.

Mehr als einen Spalt hat Kim Jong-il sein Land in den vergangenen Jahren nie aufgemacht. Aus gutem Grund: Wird das Land wirtschaftlich durchlüftet, wird auch die bizarre totalitäre Herrschaft weggefegt. Der Übergang in Pjöngjang bringt die Chance, den neuen Machthaber dazu zu verführen, die Türe so weit zu öffnen, dass er nicht mehr imstande ist, sie zu schließen. Das Experiment kann aber auch scheitern und dem Regime eine Luftzufuhr bescheren, mit der es wieder ein paar Jahre überlebt.

Die größte Gefahr des Übergangs besteht jedoch darin, dass der Junior Stärke demonstrieren will und militärisch provoziert. Und solche Spiele können auf der hochgerüsteten koreanischen Halbinsel jederzeit außer Kontrolle geraten.

Unter Kim Jong-un beginnt ein neues Spiel, das sich als genauso zäh erweisen könnte wie das alte. Seiten 1 BIS 4

E-Mails an: christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.12.2011)

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