Eine Entschuldigung an unsere Nachbarn

Ostösterreich hat sich gefürchtet, nur weil Slowaken, Tschechen und Ungarn endlich in Freiheit leben wollten. Bis hinauf in die Regierung hat unser Land falsch reagiert.

Anna und Marika pflegen abwechselnd meinen Vater. Sie kommen aus der Slowakei, und sie sind ein Segen. Sie haben in das Leben des alten Herrn wieder Regelmäßigkeit, gutes Essen und Fröhlichkeit gebracht. Und allein dafür gehören sie gewürdigt. Wie diese beiden Frauen erfüllen mittlerweile viele ihre Landsleute wichtige Dienstleistungen in Österreich. Sie kommen auch als Touristen oder zum Einkaufen über die Grenze. Sie sind nach über zwanzig Jahren ein anerkannter Teil unserer Arbeitswelt und unserer Wirtschaft geworden. Endlich.

Endlich sind kurz vor Jahreswechsel auch unsere Soldaten von der Grenze abgezogen, denn sie waren ein heikles Symbol. Nach dem Abbau des Eisernen Vorhangs, dem Abbruch der Wachtürme im Osten hatte Österreich die Nachbarstaaten mit diesem Einsatz vor den Kopf gestoßen. Es war eine Beleidigung für Slowaken, Tschechen und Ungarn: Ihr unmittelbares Nachbarland im Westen freute sich nicht mit über ihre errungene Freiheit, sondern zeigte damit offen, dass es mit dieser Entwicklung ein Problem hat. Die eigenen Soldaten waren abgezogen, die aus Österreich nahmen ihren Platz ein. Es war eine absurde Aktion für ein „subjektives Sicherheitsempfinden“ diesseits der Grenze.

Es ist Zeit, sich zu entschuldigen. Österreich hat die Ostöffnung innenpolitisch falsch begleitet. Aus Angst vor der FPÖ und ihren Hetzkampagnen gegen Zuwanderer haben SPÖ- und ÖVP-Innenminister das Bild krimineller Nachbarn hochgehalten.

Es wurde so getan, als stellten die Menschen jenseits der Grenze ein höheres Sicherheitsrisiko dar als die heimische Bevölkerung. Berichte von rumänischen Einbrecherbanden schienen solche Vorurteile und diese Politik zu rechtfertigen. Dass es sich um ein spezielles Problem handelte, das weniger mit der Grenzöffnung als mit der Expansion der organisierten Kriminalität in Südosteuropa zu tun hatte, blieb dabei ausgeblendet. Nach dem Motto von Woody Allen „Nur weil ich Verfolgungswahn habe, heißt das ja nicht, dass keiner hinter mir her ist“, trotzte die Angst vor den Nachbarn lange den Fakten.

Die jüngste Umfrage der Gesellschaft für Europapolitik, die der „Presse“ exklusiv zur Verfügung gestellt wurde, gibt Hoffnung, dass sich diese Stimmung im letzten Jahrzehnt deutlich gewandelt hat. Die Nachbarn werden heute als das wahrgenommen, was sie sind: ganz normale, meist fleißige Menschen, die ähnliche Ängste und Bedürfnisse haben wie wir. Mit zunehmenden persönlichen Kontakten wichen die Vorurteile.

Ein Rückblick zurück auf die Jahre nach der Wende muss uns heute dennoch zu denken geben. Waren es damals nicht auch Gewerkschaften, die vor der Ostöffnung und einer Horde an Arbeitssuchenden gewarnt hatten? War da nicht in Wirtschaftskreisen von den großen Gefahren einer Billigkonkurrenz für kleine Unternehmen die Rede? Haben da nicht die Sozialpartner und fast alle Parteien im Wettlauf um immer neue Abgrenzungen mitgespielt?

Natürlich hat auch die EU-Osterweiterung 2004 schmerzhafte Anpassungen in Österreich ausgelöst. Einzelne Betriebe mussten schließen. Vorübergehend gingen Arbeitsplätze verloren. Doch diese Anpassungen standen in keiner Relation zu den viel größeren Einschnitten durch die Globalisierung, die ganze Branchen – etwa die Textilbranche – vernichtet haben. Heute sind im grenznahen Gebiet neue Einkaufszentren entstanden. Dort und im Tourismus des ganzen Landes wurden durch die neuen Kunden aus den Nachbarstaaten Arbeitsplätze geschaffen.

Die viel gescholtenen heimischen Banken waren die Ersten, die das Potenzial in Osteuropa erkannten. Heute wissen wir, sie haben durch ihre verantwortungslose Kreditpolitik eine gefährliche Finanzblase erzeugt. Abgesehen davon war ihr Engagement aber ebenso visionär wie jenes der OMV und anderer größerer Unternehmen. Viele Wirtschaftsstudien belegen, ohne Ostöffnung hätte Österreich im internationalen Vergleich heute keine so gute ökonomische Position.

Es ist Zeit, sich dafür bei den Nachbarn zu bedanken und im Gegenzug damit fortzufahren, den emotionalen Zaun niederzureißen.

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2012)

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