Die Ereignisse von Toulouse werden die französischen Präsidentenwahlen nicht entscheiden. Islamistischer Terror ist eine reale, aber nicht die größte Gefahr.
Terroranschläge sind für Politiker Herausforderung und Versuchung zugleich. Die Herausforderung besteht darin, den richtigen Ton für das Gespräch mit der Gesellschaft zu finden, aus deren Mitte sie gewählt wurden. Die Versuchung besteht darin, den Schrecken für kurzfristige politische Zwecke zu instrumentalisieren.
Führen heißt sprechen, das zeigt sich in Ausnahmesituationen noch stärker als im Alltag. Der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg hat nach dem Massaker, das Anders Breivik im Juli 2011 in Oslo und auf der Ferieninsel Utøya verübt hat, gezeigt, wie man diese Führungsaufgabe souverän erfüllt. Und Nicolas Sarkozy konnte nach den Morden von Toulouse und dem Tod des Attentäters Mohamed Merah zumindest der Versuchung widerstehen, die Anschläge für ein fulminantes Wahlkampf-Finish zu nutzen. Er begnügte sich mit den demoskopischen Windfall-Profits, die in einer solchen Situation für die Frau oder den Mann an der Spitze immer abfallen, wenn er oder sie nicht vollkommen versagt.
Die Versuchung zum Missbrauch von Terrorakten äußert sich in der Frage nach der ideologischen „Heimat“ des Attentäters. Mohamed Merah bekannte sich als „Gotteskrieger“, als islamistischer Extremist, er wurde offensichtlich in Pakistan und Afghanistan von Taliban auf seine selbstmörderische Aufgabe vorbereitet. Anders Breivik trieb sich in rechtsextremen Foren herum, er glaubte an die Überlegenheit der nordischen Rasse und sah seine Aufgabe darin, Europa vor der islamischen Gefahr zu bewahren.
Nach der gelernten Mechanik des politmedialen Komplexes nutzten und nutzen die Linken den Attentäter Breivik, um alles, was sich an politischer Bewegung rechts der Mitte abspielt, der geistigen Urheberschaft des Terrors zu bezichtigen. Die Rechten machen nach der gleichen Mechanik die Zuwanderung im Allgemeinen und die Zuwanderung aus den islamischen Gesellschaften im Besonderen für die Serienmorde von Toulouse verantwortlich.
Nach den Anschlägen von Oslo und Utøya setzte eine heftige Debatte darüber ein, ob es angemessen sei, die politische Rechte mehr oder weniger direkt für die Tat eines psychisch schwer versehrten Mannes verantwortlich zu machen, der aus den verfügbaren Quellen und auf der Grundlage seiner Sozialisation ein ideologisches Konstrukt zum Zweck der Rationalisierung seiner irrationalen Gewalt- und Tötungsfantasien anfertigt.
Muss nun also, wer damals die politische Rechte in Schutz nahm, jetzt auch die Vertreter des politischen Islam in Schutz nehmen, die, unter Ausnutzung säkularer Verhältnisse, gegen die Trennung von Religion und Politik und für den Vorrang des islamischen Gesetzes vor dem liberalen Rechtsstaat agitieren?
Ja und nein. Ja, weil sich das individuelle Ausrasten aus den Verankerungen des Lebens – intakte Beziehungen, soziale und ökonomische Partizipation, ausreichende Ichstärke – nicht einfach einer Ideologie zuschreiben lässt. Nein, weil der in unterschiedlichen Netzwerken organisierte Islamismus eine reale Gefahr darstellt, die in unseren Gesellschaften lange Zeit eher verharmlost als übertrieben wurde.
Auf das Finale des französischen Wahlkampfs werden die Ereignisse von Toulouse wohl keinen entscheidenden Einfluss haben. Das ist eine ausgesprochen beruhigende Botschaft. Denn die großen Probleme der europäischen Gesellschaften haben mit der – nach wie vor realen – Gefahr des islamistischen Terrors wenig zu tun.
Die französische Präsidentschaftswahl ist vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten eine Schicksalswahl. Ob die europäische Gemeinschaftswährung zukunftsfähig ist, ob das europäische Sozialstaatsmodell Zukunft hat: Das wird nicht in Griechenland entschieden, sondern in Frankreich.
Nicolas Sarkozy ist bei der letzten Wahl mit dem Versprechen angetreten, die dafür nötigen Reformen durch- und umzusetzen. Er hat sein Versprechen nicht gehalten. Von seinem möglichen Nachfolger François Hollande kann man sich das nur wünschen: Sollte er halten, was er verspricht, wäre es um den Euro geschehen.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2012)