Fatale Kombination aus akuter Krise und oberflächlicher Politik

Nationalistisches Machtstreben und mangelnde politische Weitsichtigkeit bedrohen den Erfolgskurs der osteuropäischen Staaten. Ungarn ist nur ein Beispiel.

Ernsthaftigkeit“ ist ein etwas langweiliges, altmodisches Wort. Aber es steht für eine Eigenschaft, die gerade in Krisen zur Tugend wird. Sie erfordert Weitsicht, ehrliche Reformbemühungen und realistisch eingeschätzte Zukunftsperspektiven. Sie schließt Oberflächlichkeit und machttaktisches Kalkül aus. In einigen Ländern Ost- und Südosteuropas hat diese politische Ernsthaftigkeit noch nicht ausreichend Fuß gefasst. Deshalb kommt der aktuelle Transformationsbericht der Bertelsmann-Stiftung auch zum Ergebnis, dass es in dieser Region mitten in der Krise demokratiepolitische und marktwirtschaftliche Rückschritte gibt.

Erstmals kehrt sich also die Transformation von autokratischen Systemen zu modernen westlichen Demokratien um. Das mag eine vorübergehende Welle sein und muss natürlich mit den keineswegs besseren Entwicklungen in westeuropäischen Ländern relativiert werden. Aber für den gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum und die republikanisch-demokratische Zielsetzung der Europäischen Union ist das ein alarmierendes Zeichen.

Westeuropa ging bisher davon aus, dass sein Wohlstand, seine Freiheiten genug Anziehungskraft hätten, um die Staaten des ehemaligen Ostblocks in einen nachhaltigen Sog des Wandels zu ziehen. Das hat in der Vergangenheit auch funktioniert. Doch jetzt, da Westeuropa angesichts von Schuldenbergen, politischem und wirtschaftlichem Missmanagement sowie einer wachsenden Wohlstandskluft an Attraktivität verliert, kehren manche osteuropäischen Länder zu protektionistischen und korrumpierten Machtstrukturen zurück. Ungarn ist dabei nur ein besonders auffälliges Beispiel. In Südosteuropa haben sich zuletzt lediglich Serbien und Kroatien positiv entwickelt. Staaten wie Albanien, der Kosovo, Bosnien oder Mazedonien rutschten weiter ab. Selbst in EU-Mitgliedstaaten wie Rumänien oder Bulgarien bleiben die Rechtsstaatlichkeit und die makroökonomische Stabilität prekär. Gerade in dieser Region wird deutlich, dass Korruption, politisches Missmanagement und eine ineffiziente Justiz die wirtschaftliche Stabilisierung behindern.

Es ist eine populistische, oberflächliche Machtpolitik, die in vielen dieser Staaten betrieben wird. Was hat etwa Viktor Orbán nicht alles seinem Volk versprochen? Eine Reform des Bildungssystems, weniger Armut, ein funktionierendes Gesundheits- und Pensionssystem, eine aufstrebende Wirtschaft. Seine Energien aber konzentrierte er seit 2010 in den Ausbau der eigenen Macht. Er verscherzte es sich mit internationalen Investoren und isolierte seine Heimat in Europa.

Eigentlich sind es Scheinkämpfe, die mit den Waffen nationalistischer Emotionen ausgetragen werden. Sie bringen den Ländern nichts, sorgen nur für eine Einschränkung der Freiheit der Bürger und für eine Beschädigung der demokratischen Gewaltenteilung. Sie tragen aber letztlich auch zu einer Fragmentierung des europäischen Binnenmarkts bei. Wie unsinnig das ist, wie wenig es zu Wohlstand und Stabilität beiträgt, wird an jenen Ländern deutlich, die mittlerweile wieder einen anderen Weg eingeschlagen haben. So verfolgt beispielsweise Polen nach ähnlichen Tendenzen unter der politischen Führung der Kaczyński-Brüder heute eine konstruktive wirtschaftliche Öffnung samt Konsolidierung der demokratischen Grundpfeiler des Staates. Ergebnis sind ein Wohlstandsgewinn und eine Stabilität, die dazu geführt haben, dass Polen als europäische Ausnahmeerscheinung sogar mitten in der Finanzkrise 2009 ein Wachstum aufgewiesen hat.

Populistischer Nationalismus mag kurzfristig als Mittel zur Machtausweitung funktionieren, für das Ziel einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stabilität ist er kontraproduktiv. Er trägt nicht zur Bewältigung sozialer Konflikte und zur Überbrückung von Wohlstandsklüften bei. Diese Tatsache muss sich auch Westeuropa bewusst machen, wo mitten in der Krise so manche Regierungen ebenfalls mit dem Thema Abschottung spielen. Will Westeuropa den gemeinsamen europäischen Erfolg nicht riskieren, muss es zu seiner Vorbildwirkung bei Freiheit, Toleranz und demokratischer Kultur zurückfinden.

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.03.2012)

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