„Tyrannei der Masse“ oder Antwort auf Postdemokratie

Trendsurfen macht noch kein Parteiprogramm: Das werden die Nerds der Piratenpartei noch merken, doch einstweilen füllen sie ein politisches Vakuum.

Die Auflösung der FDP bei den Wahlen im Saarland (1,2 Prozent für die Liberalen) hat den designierten FDP-Generalsekretär Patrick Döring gehörig verunsichert. Doch anstatt seine Wunden zu lecken, ging er in einer Nachwahlsendung in Angriffsposition gegen die Piratenpartei, mit 7,4 Prozent der Stimmen aus dem Stand die eigentliche Überraschung des Wahlsonntags. In der ARD befand Döring, dass das „Gesellschaftsbild, das Politikbild und das Menschenbild“ der Piratenpartei „manchmal so sehr von der Tyrannei der Masse geprägt ist, dass ich mir als Liberaler nicht wünsche, dass sich dieses Politbild durchsetzt“.

Die Blogosphäre reagierte mit einem Shitstorm. Die Piraten schossen von ihren Zerstörern im Twitter-Meinungsmeer zurück: Was Döring „Tyrannei der Masse“ nennt, sei für alle anderen „Demokratie“. Döring konterte und nahm die „Deppen der Nation“ in Schutz, die in Parlamenten ihre Arbeit machen.

Es wäre einfach, das Wortscharmützel als Post-Wahlkampf-Hickhack abzutun. Doch hinter der Rhetorik und der am Wahlsonntagabend hochgejazzten Aufregung verbirgt sich eine ernsthafte Fragestellung: Wie halten wir es in Zukunft mit der Demokratie?

Die Piraten kann man zwar für naiv und postpolitisch halten, man kann sie als „one-issue-party“, als Partei mit dem singulären Thema „Internet“ abtun, aber damit macht man es sich wohl zu leicht.


Das Programm der Piraten ist eine wilde Mischung aus radikal-liberalen Freiheitsansprüchen des Individuums gegenüber dem Staat, Sorge vor einer Ver-1984-erung aller digitalen Lebensbereiche, grünem Nachhaltigkeitsstreben und der Forderung eines Grundeinkommens, wie sie von DM-(Drogeriemarkt)-Gründer Götz Werner über Caritas-Präsident Franz Küberl bis hin zur SPÖ gefordert wird.

Ach ja: Ein Recht auf Gratisdownloads wollen die Piraten auch.

Dass aus bloßem Trendsurfen kein kohärentes Parteiprogramm entsteht, das werden die Nerds der Piratenpartei vielleicht auch noch merken, aber für den Moment sind sie das schicke „Sinnbild feuilletonistischer Schwarmintelligenz“ (© „Frankfurter Allgemeine Zeitung“), die auf einer „Welle aus Neugier und Enttäuschung“ getragen werden.

Worin ist das Unbehagen im Parteienstaat begründet, das vor allem jungen Menschen die Piraten als attraktive Alternative erscheinen lässt? Der linke britische Politikwissenschaftler Colin Crouch hat vielleicht eine Antwort parat. Crouch vertritt die These, dass wir längst in einer Epoche der „Postdemokratie“ leben. In einer Postdemokratie werden zwar nach wie vor Wahlen abgehalten, aber der Wahlkampf selbst wird von konkurrierenden Teams professioneller PR-Experten so stark beeinflusst, dass er „zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben“. Klingt vertraut, oder?

Mit der schnellen Will-haben-Welt der Instantgratifikation, wie sie die Internet-User und damit Stammklientel der Piratenpartei gewohnt sind, kann der langwierige, schwierige und manchmal unschöne orthodoxe politische Prozess nicht mithalten.

Vom deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck (1815–1898) ist der Satz überliefert: „Je weniger die Leute darüber wissen, wie Würste und Gesetze gemacht werden, desto besser schlafen sie nachts.“ Doch dank 24/7-Medienberieselung, dank Glasfaserleitungen und Mobiltelefonie, dank Twitter und Facebook blickt der somnambule Citoyen direkt in die Eingeweide der politischen Maschinerie – und das ist alles andere als ein schöner Anblick.

Die Piraten füllen trotz ihrer erfrischenden Unbedarftheit offenbar ein Vakuum und schaffen ein Ventil für Politikerverdrossenheit. Der Parteienstaat, wie wir ihn bisher gekannt haben, ist am Ende. Ob freilich die Piraten die Antwort auf eine renovierungsbedürftige politische Architektur sind, darf bezweifelt werden. Zu hoffen ist aber, dass der Erfolg der Piraten Anstoß zu demokratiepolitischen Debatten gibt.

Wenn das der Internetgeneration bloß nicht zu öd ist.

E-Mails an: thomas.seifert@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.03.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Innenpolitik

"Hellboy" und "Mr. Crazy": Piraten in Österreich wollen fünf Prozent

Die heimischen Piraten formieren sich am Sonntag in Wien. E-Voting lehnen sie ab, weil sie um die Missbrauchsgefahr wissen. Sie sind optimistisch, bei der Nationalratswahl 2013 bundesweit kandidieren zu können.
Porträt des Tages

Frau Lehrling Drachenblut führt die Provinzpiraten an

Die 22-jährige Jasmin Maurer hat die saarländischen Computernerds gut im Griff – und brachte sie in den Landtag.
GERMANY SAARLAND STATE ELECTIONS
Außenpolitik

"Extrem glücklich": Piraten schaffen Sprung in Landtag

Nach der Landtagswahl im Saarland bleibt die CDU die stärkste Kraft vor der SPD. Die FDP verpasste den Einzug ins Parlament. Die Piratenpartei konnte vor allem die Nicht-Wähler mobilisieren.
CDU-Anänger in Saarbrücken.
Außenpolitik

Saarland-Wahl: CDU als stärkste Partei behauptet

Erste Prognosen geben den Christdemokraten um 35 Prozent, der SPD fast 31. Die Piratenpartei zieht in den Landtag ein, die FDP scheitert klar.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.