Der Volksverstärker

Meinungsmacher mögen angewidert sein von der antiisraelischen "Das-wird-man-ja-noch-sagen-dürfen"-Lyrik des deutschen Nobelpreisträgers. Die Masse ist auf der Seite von Günter Grass.

Günter Grass verblüfft nicht nur mit seiner Ahnungslosigkeit. Fast mehr noch nervt seine lächerliche Pose als Draufgänger, der es endlich wagt, das Schweigen zu brechen. Der 84-Jährige tut ganz so, als beschreite er mit seinem lyrischen Fußtritt gegen Israel als erster Deutscher nach 1945 neues Territorium. Dabei gibt er bloß in Gedichtform wieder, was im Wirtshaus ums Eck geschwätzt wird.

So wie Grass denken die meisten, und zwar nicht erst, seit in Jerusalem Benjamin Netanjahu Premier ist. Schon 2003 erklärten in einer Eurobarometer-Umfrage 53 Prozent der Europäer Israel zur größten Bedrohung für den Frieden, knapp vor den USA. Nordkorea und den Iran reihten sie dahinter.

Wer die Welt aus dieser Perspektive sieht, kann manches durcheinanderbringen. Nie, außer vielleicht in der Akutabteilung der psychiatrischen Sarah-Herzog-Anstalt, hat irgendein Israeli damit gedroht, das „iranische Volk“ in einem „Erstschlag“ auszulöschen. Grass hat sich den Unfug, unangekränkelt von Sachverstand, trotzdem zusammengereimt. Irans Präsidenten Ahmadinejad, der angekündigt hat, Israel, je nach Übersetzung, von der Landkarte oder aus den Annalen der Geschichte zu tilgen, verniedlicht er hingegen als „Maulhelden“. Geht ja auch nicht anders, wenn es die „Atommacht Israel“ sein soll, die den „ohnehin brüchigen Weltfrieden“ gefährdet.
Deutschlands Kommentatoren haben Grass für sein Stussgedicht einträchtig durch Sonne und Mond geschossen. Doch wer sich im Besitz der Wahrheit wähnt, den kratzt das nicht. Er werde nicht widerrufen, sagte der Dichter, als hätte er todesverachtend wie ein Wiedergänger Luthers 95 unerhörte Thesen ans Jaffator in Jerusalem genagelt – und nicht neun semidemente Strophen.

Der alte Mann, unbestritten einer der größten Schriftsteller Deutschlands, beklagt sich nun über eine „Kampagne“ gleichgeschalteter Medien. Dabei hat er den Protest einkalkuliert. Warum sonst die Selbstinszenierung als Tabubrecher? „Was gesagt werden muss“, nennt Grass sein Gedicht. Das erinnert an einen anderen Provokateur, an Thilo Sarrazin, bei dem ebenfalls der Volkstribunen-Gestus des Das-wird-man-ja-noch-sagen-Dürfens mitschwingt. Auch er erntet Ablehnung, wenngleich nicht dermaßen geschlossene, bei berufsmäßigen Meinungsmachern und Zuspruch bei den Massen. Grass öffnet eine ähnliche Kluft. In der anonymen Welt der Poster fährt er mit seinen Ansichten locker eine Vier-Fünftel-Mehrheit ein. Die Anstandswauwaus in den Medien würden nur deshalb über Grass herfallen, weil er Israel attackiert habe, heißt es da.

Letztlich wird sich genau dieser Irrtum durch die Grass-Debatte verfestigen: dass Deutsche oder Österreicher Israel nicht kritisieren können, ohne als Antisemiten diffamiert zu werden. Ein blanker Unsinn: Gerade die Regierung Netanjahu steht, oft aus gutem Grund, fast täglich international in der Kritik. Doch die Vereinfacher fühlen sich bestätigt, wenn einer wie Grass nicht willens ist zu differenzieren. Der Literaturnobelpreisträger als Volksverstärker – ein Trauerspiel.

christian.ultsch@ diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.04.2012)

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