Sind die Pazifisten eine Bedrohung des Weltfriedens?

Die heftigen Debatten über einen angemessenen Umgang mit den iranischen und nordkoreanischen Atomwaffenambitionen erinnern an den Kalten Krieg.

Anfang der 1980er-Jahre veröffentlichte einer der wichtigsten Vertreter der „neuen Philosophie“ in Frankreich, André Glucksmann, seine „Philosophie der Abschreckung“. Es war das Jahrzehnt, in dem der amerikanische Präsident Ronald Reagan sich entschieden hatte, die Sowjetunion bedingungslos als das „Reich des Bösen“ zu konfrontieren und durch sein Bestehen auf dem Konzept der atomaren Abschreckung zur Hassfigur der pazifistischen Linken Europas, vor allem Deutschlands wurde.

Dass der französische Linke André Glucksmann Reagans Politik der atomaren Abschreckung rechtfertigte, empörte die pazifistische Linke Deutschlands. Einer ihrer prominentesten Vertreter war damals der grüne Bundestagsabgeordnete Joschka Fischer. Er rezensierte Glucksmanns Buch für das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, und sein Hauptvorwurf lautete, dass Glucksmann die Welt „ronaldisiere“, also auf dieselbe Weise in Gut und Böse einteile wie der verhasste amerikanische Präsident.
Glucksmanns Thema war die Frage: „Haben wir das Recht, Frauen, Kinder und Kindeskinder eines ganzen Planeten als Geiseln zu nehmen? Dürfen wir die Zivilbevölkerung, zu der wir selbst gehören, mit der Apokalypse bedrohen? Verdient eine Kultur weiterhin diesen Namen, wenn sie, um zu überleben, wissentlich ihre Auslöschung riskiert?“ Und er beantwortete diese Frage mit einem klaren Ja. Seine Argumentation fußte auf dem Gedankenexperiment, was passiert wäre, wenn es Hitler gelungen wäre, vor den Amerikanern die Atombombe zu entwickeln.

Die Welt auf die Alternative zwischen Auschwitz und Hiroshima zu reduzieren, konterte Fischer, kennzeichne weniger den Philosophen als den Ideologen: „Was, bitte schön, eröffnet denn die Alternative zwischen Auschwitz und Hiroshima mehr als einen Abgrund in der westlichen Kultur?“ Fischer war nachgerade empört über Gluckmanns These, dass die wesentlichen Kriege im Zeitalter der nuklearen Abschreckung nicht mehr geführt werden, weil solche Kriege notwendigerweise im Selbstmord enden würden. Kein Wunder: Diese These impliziert, dass von der Friedensbewegung, die der Franzose als eine Art vorauseilende Unterwerfung unter den sowjetischen Willen zur Macht interpretierte, mehr Gefahr für den Weltfrieden ausgeht als von dem amerikanischen Präsidentendummkopf.

Wir wissen heute, wie die Geschichte ausgegangen ist. „The man who beat communism“ titelte der britische „Economist“ anlässlich des Todes von Ronald Reagan. André Glucksmann scheint recht behalten zu haben. Die pazifistische Linke Deutschlands hat sich bis heute nicht erholt. Joschka Fischer seinerseits wurde zwei Jahrzehnte später von seinen eigenen Parteifreunden tätlich angegriffen, weil er sich für militärische Interventionen aus humanitären Motiven – man prägte dafür den Begriff des „Menschenrechtsbellizismus“ – ausgesprochen hatte.

Heute geht es in der Debatte um Atomwaffen nicht mehr um die potenziell apokalyptische Konfrontation zwischen zwei Supermächten, sondern um die Gefahr, dass schwer berechenbare Regime wie jenes des iranischen Gottesstaates über Atomwaffen verfügen. Regime, die für das rationale Kalkül, das Glucksmanns „Philosophie der Abschreckung“ zugrunde liegt, möglicherweise nicht zugänglich sind.

Die Frage lautet heute nicht mehr, ob es sinnvoll ist, tatsächlichen oder potenziellen Atomwaffenarsenalen von „bösen Staaten“ noch größere Arsenale gegenüberzustellen. Die Frage lautet, wie weit man gehen darf, um zu verhindern, dass Regime wie Nordkorea und der Iran in den Besitz von Atomwaffen kommen. Sind Militärschläge zur Zerstörung oder Behinderung der iranischen Atomwaffenentwicklung gerechtfertigt, auch wenn sie das Risiko eines Gegenschlags bergen?
Diejenigen, die im israelischen Atomarsenal die eigentliche Bedrohung sehen und das als Pazifismus camouflieren, unterschieden sich nicht wirklich von pazifistischen Ideologen, denen André Glucksmann vor drei Jahrzehnten die Kapitulation vor Moskau vorgeworfen hat. Das Moskau von damals ist das Teheran von heute.

E-Mails an: michael.fleischhacker@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.04.2012)

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