Europas verführerische Sehnsucht nach der Politik

Mit François Hollande fühlen sich viele in der EU bestärkt, die nach politischen Antworten auf die Krise rufen. Sie werden mit großer Sicherheit enttäuscht werden.

Es geht derzeit so etwas wie ein Ruck durch Europa. Viele, die den Blick von der EU, von der Krise abgewandt haben, blicken plötzlich wieder auf – vor allem jene, die sich mit den sozialdemokratischen Ideen identifizieren. Ihre Hoffnung ist groß, dass der neue französische Präsident, François Hollande, die Rückkehr der Politik einläutet. Statt kühler, schlichter Sparpolitik erwarten sie eine Politik, die Wachstum und Arbeitsplätze schafft, die das weiche Eisen in der Krise so biegt, dass nachher ein gerechteres Muster entsteht. Doch Achtung! All das könnte sich als Illusion erweisen und die Frustration über das politische Agieren noch steigern.

Die Rückkehr der Politik mag in der Sehnsucht der Menschen liegen, sie mag dem Wunsch nach einem sorgenden Staat entsprechen. Doch allein ein Blick in die USA zeigt, wie rasch Hoffnungsträger auf den harten Boden globalwirtschaftlicher Zwänge zurückfallen. Barack Obama, der es glaubwürdig versucht hat, konnte viele seiner Reformankündigungen nicht umsetzen. Es ist ihm nicht einmal in Ansätzen gelungen, eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen, in der sich die Kluft zwischen Arm und Reich schließt – und das alles trotz der Konjunkturprogramme und des Aktivierens der Notenpresse.

Der Traum von der Rückkehr der Politik, wie er derzeit in Europa geträumt wird, kommt freilich nicht allein von sozialdemokratischer Seite. Er kommt genauso von rechten Parteien, die sich von der Politik Maßnahmen gegen die Zuwanderung wünschen. Er kommt von der Wirtschaft, die sich den Schutz ihrer Urheberrechte und die Absicherung ihrer Investitionen wünscht. Ob Linke oder Rechte, sie alle vereint der Wunsch, dass die massiven Kräfte der Globalisierung durch politische Maßnahmen gebändigt werden. Aber wie kann etwas aufgehalten werden, was durch Reisemöglichkeiten, den weltweiten Handel und das Internet längst zur tief verwurzelten Realität geworden ist? Gleich, ob man sie mag oder nicht: Die Globalisierung straft alle Länder ab, die ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht steigern, die eine Last von Schulden mit sich herumtragen. Und auch jene, die ihr soziales Netz zu sehr ausgedünnt haben, für Krisen keine Abfederung mehr anbieten können.

Jede Krise gibt einen Spielraum für die Politik frei. Aber sie straft auch alle ab, die diesen Spielraum überziehen. Wenn beispielsweise François Hollande nun tatsächlich bei höherer Lebenserwartung das Pensionseintrittsalter senkt, mag ihm das kurzfristig einen Sieg bei den Parlamentswahlen bringen, Frankreich aber langfristig schaden. Diese Maßnahme wird die Staatsschulden weiter erhöhen und noch mehr Humankapital aus der Realwirtschaft abziehen. Wenn der linksradikale Grieche Alexis Tsipras seinen Landsleuten verspricht, er werde die harten Sparauflagen der internationalen Geldgeber kündigen, wird auch er seinem Land schaden. Denn damit wird es wohl oder übel aus dem Euro fliegen und in eine inflationäre Abwärtsspirale geraten. Politik sollte und könnte auch heute gestalten, aber nur, wenn sie sich von unrealistischen Versprechungen ihrer jeweiligen Klientel gegenüber verabschiedet.

Auch das Sparen war in Europa eine politische Entscheidung. Die Enttäuschung darüber ist wohl deshalb so groß, weil es zu eindimensional und mit Ausnahme von Ländern wie Griechenland nicht konsequent umgesetzt wurde. Die Regierungen haben statt bei ihrer Verwaltung oder bei einem nicht mehr finanzierbaren Pensionssystem quer durch bei ihren gesellschaftlichen Aufgaben gespart. Dadurch ist es ihnen auch nicht gelungen, Gelder für sinnvolle Investitionen in die Zukunft freizumachen. Wenn die OECD kritisiert, dass die Bildungsausgaben in Österreich im Verhältnis zum BIP seit 1995 kontinuierlich gesunken sind, spricht das Bände. Im selben Zeitraum hat sich nämlich der Schuldenstand des Staates im Verhältnis zum BIP um etwa ein Viertel erhöht. Wofür?, fragt man sich.

Natürlich braucht es auch heute eine Politik, die gestaltet. Aber dafür muss sie sich zuerst von einem anachronistischen nationalen Staatswesen befreien, das den kleinen Bürger bis in seinen intimsten Lebensbereich reglementiert, während es die neuen globalen Herausforderungen negiert. Rückkehr der Politik, Seite 1

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2012)

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