Europa ist unterwegs zur „Failed Union“

Die Devise lautet: „Was interessiert mich mein Vertrag von gestern?“

Alexis Tsipras, situationselastischer Ex-Premier des Pleitestaats Griechenland, hat am Wochenende angedeutet, dass er im Fall eines neuerlichen Sieges bei den bevorstehenden Wahlen den mühsam mit den Geldgebern und der Euro-Gruppe ausgehandelten Vertrag gleich wieder schmeißen beziehungsweise „neu verhandeln“ will.

Gut: Tsipras steckt im Wahlkampf, und er hat seinen Wählern schon viel versprochen. Aber in dem Fall hätte er gute Chancen, damit durchzukommen. Denn Verträge sind in der EU und den umgebenden Institutionen ganz offenbar wertloses Papier, das man einfach so unterschreibt – und vergisst.

Oder erinnert sich noch irgendjemand an die Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrags, die die Stabilität des Euro sichern sollten? Ganze zwei der 18 Euroländer (Luxemburg und Estland) haben das Defizit- und Staatsschuldenkriterium bisher auf Punkt und Beistrich erfüllt. Den anderen ist Maastricht mehr oder weniger egal. Konsequenzenlos.

Oder hat noch jemand die „No-Bail-out-Klausel“, eine der tragenden Säulen der Wirtschafts- und Währungsunion, im Sinn? Sie ist während der Griechenland-Rettung einfach in Vergessenheit geraten. Oder das Verbot der direkten Staatsfinanzierung durch die EZB, bei dessen Durchsetzung die Staatsanleihenkäufe der Euro-Notenbank zumindest eine haarige Sache wären?

Die vergangenen Tage haben uns drastisch vor Augen geführt, dass diese „Was interessiert mich mein Vertrag von gestern?“-Attitüde keinesfalls auf den Wirtschaftsbereich beschränkt ist. Der im Schengen-Vertrag festgeschriebene Schutz der Außengrenzen? Die im Dublin-Abkommen vorgeschriebene Registrierung von Schutzsuchenden im ersten EU-Land, das erreicht wird? Tja, was soll man machen, wenn die das nicht wollen?

Sorry, aber so wird das nichts. Eine Gemeinschaft, die ihre eigenen Verträge so krass nicht ernst nimmt, ist auf dem Weg zur „failed union“. Selbst eingefleischte Europäer haben es sich in ihren schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können, dass die Politik eine so gute Idee wie ein gemeinsames Europa so grausam vermurksen kann.

josef.urschitz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2015)

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