Die Vielfalt an Chancen macht uns Angst

Wirtschaftlicher Fortschritt heißt alte Denkmuster überwinden. Der Brexit ist eine Flucht in die Vergangenheit.

Beide Seiten haben nicht argumentiert, sondern Ängste geschürt. Das war das größte Probleme des britischen Referendums. Am Ende haben die gewonnen, die mehr Ängstliche auf ihre Seite gezogen haben. Die Brexit-Befürworter. Ihre Strategie ging auf. Wer Angst hat, hat kein Ohr für Argumente, der traut keinen Zahlen und Fakten. Der will eine Lösung. Eine aus dem Bauch heraus. Der vertraut dem Hausverstand mehr als den sogenannten Eliten.

Es ist müßig zu überlegen, wie so eine Wahl hierzulande ausgegangen wäre. Wäre sie mit Argumenten zu gewinnen? Dass in Österreich seit dem EU-Beitritt fast eine halbe Million Jobs geschaffen wurden, dass sich das BIP pro Kopf seither fast verdoppelt hat, dass vieles billiger geworden ist, weil Handelshemmnisse, Zollschranken und Wechselkursrisken weggefallen sind. Wen interessiert, was er alles hat, wenn er fürchtet, dass ihm etwas genommen wird? Etwa seine vertraute Welt von den Flüchtlingen, sein Job von der Finanzkrise, seine Familie von Terroristen?

Die Briten haben eine der niedrigsten Arbeitslosenraten in Europa. Das hielt 52 Prozent dennoch nicht davon ab, der EU den Rücken zu kehren. Weil sie vieles nicht mehr verstehen und sich in vielen Dingen nicht mehr verstanden fühlen. Genau dort fährt der Populismus die Ernte ein. „Ich bin der Einzige, der dich versteht“, sagt der Populist. Ein schlagendes Argument – offensichtlich.

Wirtschaftlicher Fortschritt beginnt aber genau dort, wo es kompliziert wird. Wo es heißt, alte Denkmuster zu überwinden und neues Risiko zu nehmen. Und irgendwann einmal hat dieser Fortschritt auch dazu geführt, dass die Menschen zuversichtlicher nach vorn geblickt haben. Wenn ein Unternehmer Geld investiert, dann manifestiert er damit doch vor allem sein Vertrauen in eine bessere Zukunft. Auch die EU ist so ein Zukunftsprojekt, das alte Grenzen, Wunden und Ressentiments überwinden will.

Wir haben sogar eingesehen, dass wir nicht mehr verstehen müssen, warum etwas funktioniert. Hauptsache, das Auto fährt, das Programm läuft, das Handy ist auf Empfang. Doch diese Dinge, von denen wir keine Ahnung mehr haben, sind immer mehr geworden. Und um sie herum Bürokratie, Gesetzesflut und staatlicher Schutz.

Wer aber seine Bürger vor der Zukunft schützt, darf sich am Ende nicht wundern, wenn sie die graue Vergangenheit wählen. Wer seinen Bürgern jede auch noch so kleine Entscheidung abnimmt und per (EU-)Verordnung regelt, darf sich nicht wundern, wenn am Ende der Populismus siegt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2016)

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