Die Stunde der verbalen Kraftmeier

Im Streit mit der Türkei ist die EU wirtschaftlich in der besseren Position.

Im Zuge der zunehmenden Vereisung der Beziehungen zwischen Europa und der Türkei ist jetzt die Stunde der verbalen Kraftmeierei angebrochen. Jede zweite unverschämte Forderung aus Ankara ist mit dem Unterton belegt, Europa brauche die Türkei schließlich mehr als umgekehrt. „Wir sitzen an dem längeren Hebel“, tönt es dagegen beispielsweise vom Wiener Ballhausplatz.

Was jetzt? Also wirtschaftlich gesehen ist die Lage eindeutig: Wir vergleichen hier einen Wirtschaftsraum, der zugegebenermaßen ein paar Probleme mit Wachstum und Arbeitsmarkt hat, mit einem Land, das von Standard&Poor's soeben auf Ramschstatus, eine Art Vorstufe zum Staatsbankrott, abgestuft wurde.

Ein paar Zahlen illustrieren den Unterschied sehr schön: Das BIP der Türkei ist annähernd doppelt so groß wie das österreichische – bei zehnmal mehr Einwohnern. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf ist in der Gesamt-EU annähernd dreimal, in Österreich dreieinhalbmal so groß wie am Bosporus. Die beiden Wirtschaftsräume sind eng miteinander verflochten: Die EU ist der bei Weitem wichtigste Exportmarkt der Türkei, die Türkei wiederum ist der fünftwichtigste Exportmarkt der EU.

Aber: Rund die Hälfte der türkischen Exporte geht in die EU. Und sie lassen sich nicht immer einfach umlenken, weil es sich vielfach um Lieferungen verlängerter EU-Werkbänke handelt. Eine Reihe von Autokonzernen lässt ihre Karossen beispielsweise in der Türkei zusammenschrauben. Vom EU-Export machen die Ausfuhren in die Türkei dagegen nur 4,4 Prozent aus.

Es sieht also ganz so aus, als würde der „längere Hebel“-Sager von Bundeskanzler Kern deutlich näher an der Realität liegen als die Kraftmeierei in Ankara. Die Türkei ist ein wichtiger Handelspartner, und man sollte versuchen, diese Beziehungen auch angesichts des derzeitigen politischen Amoklaufs der türkischen Führung voll aufrechtzuerhalten.

Aber es gibt zumindest wirtschaftlich gesehen nicht den geringsten Grund, vor Drohungen aus Ankara in die Knie zu gehen. Da kann die EU jetzt auf Präpotenz wirklich nur mit gut begründetem Selbstbewusstsein reagieren.

josef.urschitz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.08.2016)

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