Eine systemische Krise braucht eine systemische Therapie

Wie die Destruktivität der „unsichtbaren Hand“ auf den internationalen Finanzmärkten gestoppt werden könnte.

Börsenkrach, Bankenzusammenbrüche, Währungskriege – in den 1930er-Jahren wütete die „unsichtbare Hand“ auf den Finanzmärkten so sehr, dass man sie in den 1950er- und 60er-Jahren nur auf den Gütermärkten walten ließ: Die Wechselkurse waren fix, die Zinssätze niedrig und stabil, Rohstoffspekulation spielte keine Rolle, die Aktienmärkte dösten vor sich hin.

Kurz: Die kapitalistische Kernenergie, das Profitstreben, konnte sich nur in der Realwirtschaft entfalten, unternehmerisches Verhalten lohnte sich, Finanzspekulation nicht. Unter diesen „Spielbedingungen“ ergab sich das Wirtschaftswunder: rezessionsfreies Wachstum, Vollbeschäftigung, Ausbau des Sozialstaats, sinkende Staatsverschuldung.

Seit Anfang der 1970er-Jahre wurde die unsichtbare Hand entfesselt. Nun konnte sie auch auf den Finanzmärkten wieder walten – und wie: Den beiden Dollarentwertungen folgten die Ölpreisschocks 1973 und 1979 samt Rezessionen. Das Zinsniveau übertraf die mittelfristige Wachstumsrate, die Finanzinnovationen lenkten das Gewinnstreben auf Spekulation. Industriekonzerne verwandelten sich in Finanzkonglomerate, Banken – vormals Diener der Realwirtschaft – wurden zu Finanzalchemisten, kurz: Das Wirtschaftswunder fand in der Finanzwelt statt – für die Realwirtschaft ein „blaues Wunder“.

Der Profitanreiz für den Bäcker

Die theoretischen Gründe, warum die unsichtbare Hand auf Gütermärkten Wohlstand schafft, auf Finanzmärkten aber zerstörerisch wirkt, sind so einfach, dass sie von ökonomischen Geistesgrößen nicht zu begreifen sind.

Wenn die Nachfrage nach Brot zunimmt, steigt sein Preis und damit der Profitanreiz für den Bäcker. Er erhöht das Angebot, der Preis sinkt wieder, und die Brotversorgung hat sich verbessert.

Wenn am Finanzmarkt der Preis steigt, kann das Angebot nicht erhöht werden, die Menge an Aktien, Anleihen oder Devisen ist ja (kurzfristig) fix. Also empfehlen Analysten „buy“: Statt des Angebots (wie am Gütermarkt) steigt die Nachfrage noch mehr und damit der Preis.

Dort wird nur umverteilt

Das Profitstreben versucht nun, dieses „trending“ auszunützen durch unzählige „trading systems“, von der technischen Analyse bis zu „high frequency trading“. Folge: Aktienkurse, Rohstoffpreise, Zinssätze und Wechselkurse entwickeln sich in Schüben, die sich über Jahre zu Bullen- und Bärenmärkten akkumulieren.

Der zweite Grund für die Destruktivität der unsichtbaren Hand auf Finanzmärkten: Dort werden keine Werte geschaffen, sondern nur umverteilt. Wer sich am wenigsten nicht auskennt (Goldman Sachs, Deutsche Bank, diverse Hedge Funds, kurz die „Finanzalchemisten“), gewinnt, die anderen verlieren – von Amateurtradern bis zu Pensionsfonds.

Einwand: Die Finanzmärkte ermöglichen doch die Streuung von Risken! Ja, aber eben jener Risken, welche sie zuerst geschaffen haben. Doppeltes Wirtschaftswunder: Durch immer schnellere Spekulation destabilisieren die Alchemisten die wichtigsten Preise, und gegen diese Unsicherheit verkaufen sie Sicherheiten aller Art – beides mit hohem Gewinn.

Die Entwicklung in Irland und Griechenland ist exemplarisch: Durch Spekulation mit/auf Staatspleiten treiben die Finanzalchemisten die Zinsen für Staatsanleihen auf bis zu zehn Prozent („Risikoprämien“). Gleichzeitig borgen sie sich von der EZB Geld zu einem Prozent und kaufen damit die hochverzinslichen Papiere. Wird ihre Beteiligung an Rettungskosten angesprochen, dann bestehen sie auf hundertprozentiger Bezahlung, also auf null Risiko.

Fazit: Was durch (enorme) Entbehrungen der Arbeitnehmer und Unternehmer in den Schuldnerländer eingespart wird, fließt als Zinsertrag in die Taschen der „Finanzalchemisten“. Und die Staatsschuldenquote steigt und steigt.

Wucherzinsen sind das Problem

Tatsächlich sind die Wucherzinsen das Problem, sie führen jenes Ereignis herbei, für dessen Risiko sie entschädigen. Das aber können die Eliten nicht erkennen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf: dass die freiesten Märkte falsche Preise produzieren. Hin wäre der Glaube an eine „unsichtbare Hand“, die 40-jährige Missionsarbeit umsonst, politisches Handeln wieder gefragt.

Eine systemische Krise braucht eine systemische Therapie: Die Anreizbedingungen sind so zu verändern, dass sich unternehmerisches Handeln (wieder) mehr lohnt als Finanzkunststücke.

Grundvoraussetzung: Das System Politik muss die zwischen der Real- und Finanzwirtschaft vermittelnden Preise (im Raum: Wechselkurs, in der Zeit: Zinssatz) stabilisieren, und zwar entsprechend den Gleichgewichtswerten der (neoliberalen!) Wirtschaftstheorie (Zinssatz=Wachstumsrate, Wechselkurs=Kaufkraftparität). Ein konkreter Lösungsansatz für die akute Eurokrise sähe so aus:

•Der im Mai geschaffene Rettungsfonds (750 Mrd. €) wird zum „Europäischen Währungsfonds“ (EWF) ausgebaut, gespeist aus Mitteln der Euro-Zentralbanken.

•EZB und EWF geben eine Garantie für die Staatsschuld sämtlicher Euroländer ab. Damit gibt es keinen Grund für Risikoprämien.

•EZB und EWF legen gemeinsam das Zinsniveau für neu emittierte Euro-Staatsanleihen fest, und zwar – wegen des auch zinseszinsbedingt hohen Schuldenstands – etwas unter der erwarteten Wachstumsrate (derzeit auf etwa 2%).

•Jene Neu-Emissionen, welche zu diesen Konditionen keine privaten Abnehmer finden, werden vom EWF gekauft.

•Die Staatspapiere werden freilich genügend Anleger finden. Es existiert ja ein enormes Volumen an Finanzkapital, das einen relativ sicheren Hafen sucht.

Der Teufelskreis von Wucherzinszahlungen an „Finanzalchemisten“, verstärkten Sparbemühungen, Dämpfung des Wirtschaftswachstums, steigender Verschuldung und noch höheren Zinsen, wäre damit ausgeschaltet.

Für die Altschulden ist ein geordneter „Haarschnitt“ unvermeidlich. Richtlinie für die Ausgleichsquote: jener Schuldenstand, der sich unter der Bedingung Zinssatz=Wachstumsrate ergäben hätte. Für „Problemländer“ wie Griechenland wird die Ausgleichsquote daher viel niedriger sein (müssen) als für Deutschland.

Die gemeinsame Bewältigung der europäischen Schuldenkrise würde den Zusammenhalt der Euroländer stärken. Derzeit geschieht das Gegenteil. Ob unsere Staatenlenker begreifen, was auf dem Spiel steht? Derzeit scheinen sie noch in marktreligiöser „Anbetungsstarre“ verhaftet: Verstört sehen sie zu, wie sich die Plage ausbreitet.


E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Person

Stephan Schulmeister (*26.8. 1947) studierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an der Uni Wien. Mehrere Studienaufenthalte an ausländischen Universitäten. Seit 1972 wissenschaftlicher Mitarbeiter beim österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifi). Derzeit auf Forschungsaufenthalt beim IWF in Washington – Abteilung Staatsfinanzen. [Fabry]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.12.2010)

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