Wien ist viel moderner als "Wien modern" glauben macht

Heutzutage dirigieren sogar weltreisende Superstars längst nicht mehr nur Beethoven, Brahms oder Verdi. Strawinsky und Co. haben das Sagen.

Diese Woche wird Wien wieder modern. Wobei die Zuschreibung noch in einem viel umfassenderen Sinn zuzutreffen scheint, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Die Frage, was denn nun eigentlich moderne Musik sei, kann allerdings kein Mensch richtig beantworten, weil der Begriff höchst vieldeutig war – und ist.

Zu Lebzeiten galten Meister vom Format eines Richard Strauss oder Erich Wolfgang Korngold selbstverständlich als Inbegriff der Moderne. Die Nachwelt urteilt völlig anders. Beide Meister gelten den Kommentatoren heute als vergleichsweise rückschrittlich, vor allem im Vergleich zu den Vertretern der Wiener Schönberg-Schule, die man nach 1945 zum Maß aller zeitgenössischen Dinge zu machen versuchte.

Das gelang ja in Theorie und Praxis so gut, dass komponierende Menschen der Nachkriegsära sich jahrzehntelang keinen Dreiklang hinzuschreiben getraut haben. Was wiederum das Publikum zum Anlass nahm, einen weiten Bogen um jegliche Präsentation Neuer Musik zu machen.

„Wien modern“ kam in den späten Achtzigerjahren genau im richtigen Moment, nämlich als die Kunst schon postmodern geworden war. Bei früheren Festivals für zeitgenössische Musik hatte notorisch gähnende Leere geherrscht. „Wien modern“ aber errang Kultstatus. Vielleicht, weil der Titel unbewusst angesichts der Öffnung aller stilistischen Schleusen schon wieder etwas sympathisch Retrospektives an sich hatte. Modern war chic. Und blieb es für einen Kreis von Connaisseurs, genügend groß immerhin, um zumindest in Festivalzeiten die Säle zu füllen.

In der Zwischenzeit hat sich aber auch der sogenannte klassische Konzertbetrieb geöffnet. Was noch vor einem Vierteljahrhundert riskant gewesen wäre, ist anno 2014 kein Problem mehr: Dass ein Maestro wie Riccardo Muti sein mehrtägiges Gastspiel im Musikverein zu einem großen Prozentsatz mit Werken von Meistern wie Skrjabin, Debussy oder Strawinsky bestreitet, gilt heute eher als werbewirksam.

Das Publikum weiß es auch zu schätzen, wenn ihnen parallel zum Muti-Gastspiel im Konzerthaus das Mariinsky-Orchester unter Valery Gergiev gleich ein kleines Sonderfestival mit Werken Sergej Prokofieffs präsentiert, bei dem unter anderem alle Klavierkonzerte des Meisters zu hören sein werden. Das Zweite, sonst rar, steht dieser Tage in Wien übrigens in drei verschiedenen Interpretationen zur Diskussion – einst hat ein Uraufführungsgast mit dem Ruf „Das ist ja ein wildes Tier“ den Saal verlassen.

Da hat sich doch allerhand verändert in hundert Jahren – und man genießt heute nicht nur den Sarkasmus und die motorische Brillanz dieser Musik, sondern liebt auch den großen Melodiker Prokofieff – auch so etwas war möglich, als die Moderne noch wirklich modern war...

E-Mails an:wilhelm.sinkovicz@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2014)

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