Arabische Modernität? Hat es nie gegeben!

Der große Lyriker Adonis tadelt im „Zeit“-Interview den rückständigen Islam – aber auch den Westen.

Dichtern wird von geneigten Lesern manchmal zugesprochen, dass sie prophetische Gaben haben. Der Syrer Ali Ahmad Said, der seit 30 Jahren in Paris lebt, gilt als einer der wichtigsten Lyriker in arabischer Sprache. Wenn dieser 84-Jährige, der unter dem Künstlernamen Adonis publiziert, über die Zukunft der islamischen Länder spekuliert, sollte man ihm Beachtung schenken, selbst wenn es schmerzt.

Im Interview mit dem deutschen Wochenblatt „Die Zeit“ gibt er folgende vernichtende Prognose zur eigenen Kultur ab: Ihr Fortschritt sei bloßer Schein. „Es hat nie eine arabische Modernität gegeben. Gesellschaften, die sich auf ein religiöses Menschenbild und eine religiöse Weltsicht gründen, können nicht modern sein.“ Adonis fürchtet ganz allgemein die Intoleranz des Monotheismus. Besonders schlimm sei jedoch der Islam, solange dessen Stammesgesellschaften nicht bereit seien, Religion und Staat zu trennen und zudem die Frauen zu befreien.

Jetzt könnte man sich als Angehöriger einer europäischen Nation zurücklehnen und diesem feinen Poeten beipflichten, dass sich im Kern „die arabische Kultur seit 15 Jahrhunderten nicht verändert“ habe. Lauter Kalifate, die uns die Moderne nur vorspielen! Doch Adonis spricht weiter, und den zweiten Teil seiner Ausführungen wird man im Okzident nicht so gern hören.

Der islamische Staat sei eine Konsequenz westlicher Politik. Die USA unterstützten seit Langem religiöse Kriege in arabischen Ländern, es handle sich um Stammes- und Religionskriege. Und Europa unterstütze „Staaten, die nicht einmal eine Verfassung haben, wie Katar und Saudiarabien“. Die EU verbeuge sich sogar vor denen. Der Westen habe gar kein Interesse daran, den IS zu schlagen. Selbst das Bombardement durch die U.S. Air Force sei bloß Theater. Denn, so führt Adonis seinen Gedankengang fort, der Westen stehe in diesem tiefen Konflikt eigentlich aufseiten der Religiösen, zu denen auch Israel gehöre. Für das 21.Jahrhundert sagt der Dichter einen hundertjährigen Krieg zwischen Muslimen voraus. Der Westen aber sei für arabische Länder „auf keiner Ebene ein Modell“. Selbst die Demokratie, die „beste Form des politischen Lebens“, sei krank.

Letzteres wirkt verstörend. Eine unbequeme Ansicht. Darf man sie also leichthin als fantastische Verschwörungstheorie oder gar als blinde Trauer eines alten Mannes über die Vernichtung seiner Heimat abtun? Wer der zuvor von ihm konstatierten Rückständigkeit des Islam willig zustimmt, sollte auch den anderen Teil der Kritik überdenken. Skeptiker haben häufig recht. Wer aber Adonis als einen Propheten hören will, sollte wohl besser in seinen Gedichten nach Wahrheiten suchen.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2014)

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