Der Prothesengott braucht seine Teleskopstange!

Mehrere US-Museen haben den Einsatz von Selfie-Sticks verboten. Können wir auf dieses schlichte, aber geniale Werkzeug verzichten?

Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden“, schrieb Sigmund Freud im „Unbehagen in der Kultur“ (1930), „recht großartig, wenn er all seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen.“ Darüber meditiere ich, wenn ich, begleitet vom sanften Spott der Kollegen, meine Brillen in allen Redaktionsräumen suche, aber auch, wenn das Handy plötzlich vor meinen Augen schwarz wird. Zum Glück sind Cyberhelm und Cyberhandschuhe im (virtuellen) Museum der vergangenen Zukunft gelandet, es reicht schon, wenn man die ganz normale Haube und die unverkabelten Handschuhe ständig verlegt.

Wer je Stricknadeln gekauft hat, nur um sich damit unter dem Gipsverband zu kratzen, weiß schlichte Werkzeuge zu schätzen, auch weil sie ohne Ladegerät und ohne Gebrauchsanweisung zu bedienen sind. Was man ja vom Handy nicht behaupten kann, dieser multifunktionalen Prothese, die zum Glück noch nicht mit uns verwachsen ist. Sie wird auch nicht mit uns verwachsen: Die Menschmaschinen werden Utopien bleiben, vor der materiellen Verschmelzung unseres Geistes/Gehirns mit externen Speichern oder Prozessoren schrecken wir zurück, wollen wir wetten?

Egal. Ein schlichtes Werkzeug, das uns hilft, uns selbst zu reflektieren, eine narzisstische Prothese sozusagen, ist der Selfie-Stick, angeblich schon 1926 auf einer Fotografie in einem britischen Familienalbum nachweisbar. 1995 stellte ihn der Humorist Kenji Kawakami im Buch „101 nutzlose japanische Erfindungen“ vor, doch er ist nicht nutzlos, nur ein bisschen kommunikationsfeindlich: Er erspart es Touristen, auf deren Bitte hin Fotos von anderen Touristen zu machen. Andererseits fördert er Zusammenstöße, die entstehen, wenn ein Fotograf seiner selbst bei der Optimierung des Bildausschnitts rückwärts geht, ohne zu bedenken, dass er hinten keine Augen hat.

Wohl auch, um solche Unfälle zu vermeiden, hat nach anderen US-Museen nun auch die Smithsonian Institution in Washington den Gebrauch von Selfie-Sticks in ihren Räumen verboten. „We encourage museum visitors to take selfies and share their experiences – and leave the selfie sticks in their bags“, steht in der Aussendung. Da wird wohl so mancher an den Stock gewohnte Tourist an die Grenzen seiner Reichweite, an die Unzulänglichkeit seiner Arme stoßen. Ist vielleicht gut so. Wir sind Mängelwesen, aber wir teilen unsere Erfahrungen. Weltweit.

E-Mails an: thomas.kramar@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.03.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.