Wirkt Ai Weiwei wie weichgespült?

Der chinesische Künstler Ai Weiwei habe einen Richtungswechsel vollzogen, kritisiert das deutsche Feuilleton.

Zuerst passten seine Ansichten der chinesischen Regierung nicht. Nun passen sie den deutschen Medien nicht. Dem chinesischen Künstler Ai Weiwei wirft das Feuilleton seit mehreren Tagen und Wochen vor, nicht mehr er selbst zu sein. Wurde aus dem Kritiker ein Duckmäuser?

Medien attestieren dem Regierungskritiker jedenfalls einen deutlichen Kurswechsel. Er wirke weichgespült und/oder altersmilde, heißt es. Im Westen kannte man Ai Weiwei vor allem als Regimekritiker, der die Missstände in seinem Land anprangerte und sie in seiner Kunst verarbeitete. Genau das machte ihn populär. Die chinesische Regierung bestrafte ihn dafür hart. Mehrere Jahre lang hatte die Regierung in Peking dem Dissidenten die Ausreise verwehrt, ihn auf Schritt und Tritt beobachtet, ihn für 81 Tage an einem geheimen Ort eingesperrt.

Nun ist der Künstler erst seit rund vier Wochen wieder im Besitz seines Reisepasses. Das Ziel seiner neu erlangten Freiheit war und ist die Bundesrepublik Deutschland. Zunächst reiste er nach München, jetzt macht der Regierungskritiker in Berlin Station. Seit seiner Ankunft hat er zahlreiche deutsche Medien empfangen, hat ihnen Interviews gegeben. Medien waren Ai Weiwei immer wichtig. Und auch sie lebten gut von ihm. Doch mit einem Mal stoßen die Interviews in den Feuilletons eher auf Ablehnung denn auf Zuspruch.

„Die Welt am Sonntag“ betitelte einen Artikel über den Künstler mit den Worten „Das große Missverständnis“ und wies im Vorspann auf die „Geschichte einer Entfremdung“ hin. In der „Süddeutschen Zeitung“ zeigte Ai Weiwei „Verständnis für das Regime“. „Ich bitte nur um ein normales Leben. Ich will Dinge sagen und tun, die unserer Gesellschaft helfen. Nicht nur kritisieren, sondern Lösungen anbieten.“ In sozialen Netzwerken wird der 57-Jährige dafür scharf kritisiert. Auch in China sorgten seine Äußerungen für Missfallen – diesmal aber nicht in Regierungskreisen. Von Ai Weiwei war man einst schließlich andere Sätze gewöhnt.

Das Fass zum Überlaufen brachte schließlich ein Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“: „Festgenommen zu werden ist doch gar kein Problem. Wenn man mich heute festnehmen würde, wäre ich nicht mehr so nervös wie noch vor ein paar Jahren“, wird der Künstler da zitiert. Und: „Es gibt viel Schlimmeres.“ Ai Weiwei wehrte sich, er sei falsch wiedergegeben worden. Das ließ die Wochenzeitung nicht gelten.

Der Künstler machte auch unmissverständlich klar, dass die Menschen keine Ahnung von seinem früheren Ich gehabt hätten. Und erst recht nicht von seinem heutigen. Der Ai Weiwei, den man neuerdings im Netz beobachten kann, ist ein Mann mit zweifarbigem Bart, der Fotos von sich und seinem Sohn auf Instagram postet. Und ein Fußballtrikot des Hertha BSC in Händen hält.

E-Mails an: nicole.stern@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2015)

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