Toter Flüchtlingsbub: Charlie Hebdos Karikatur ist nicht makaber

Die neue „Charlie Hebdo“-Karikatur ist nicht makaber und grausig, die Realität ist es – und die totale Umwertung von Bildern im Netz.

Die grellsten Erfindungen seien Zitate, das sagte Karl Kraus über seine „Letzten Tage der Menschheit“. Dasselbe gilt von den Karikaturen, die das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ vergangene Woche zum Flüchtlingsthema veröffentlicht hat. Eine davon greift das Foto des an einem türkischen Strand tot liegenden dreijährigen Syrers Aylan Kurdi auf, das durch die Weltpresse gegangen ist. „Charlie Hebdo“ zeigt einen Buben in derselben Lage wie auf dem Foto, darüber in großen Lettern „So nah am Ziel ...“; daneben ein Schild, auf dem der McDonald's-Clown einen anlacht und zu lesen ist: „Aktion! Zwei Kindermenüs zum Preis von einem“.

Charlie Hebdo stirs new controversy with cartoons of drowned Syrian kid http://t.co/8jhbAnznuUpic.twitter.com/xwPAIL4D4K

— Haaretz.com (@haaretzcom) 15. September 2015Seit sich das Bild via Internet im englischsprachigen Raum und darüber hinaus verbreitet hat, wird „Charlie Hebdo“ erneut massenhaft als „rassistisch“ und „xenophob“ attackiert. Typischer Kommentar: „Die Welt marschierte für Charlie, damit die sich über den Tod eines syrischen Kindes lustig machen können.“

In der Diskussion um die Mohammed-Karikaturen meinten ja viele im Westen verständnisvoll, „Charlie“ hätte ein derart sensibles Thema vorsichtiger behandeln müssen, um nicht missverstanden zu werden. Spätestens die grelle Missdeutung der neuen Zeichnungen sollte diese Kritiker eines Besseren belehren. Karikaturisten können nicht für die Rezeption einer Zeichnung verantwortlich gemacht werden, nur für den Kontext, in dem sie diese Bilder veröffentlichen. Ebenso wenig wie in den Medien gezeigte Fotos (etwa jenes der erstickten Flüchtlinge im Lkw auf der Ostautobahn) „an sich“ verwerflich oder nicht verwerflich sind; verwerflich oder nicht verwerflich kann nur der Kontext sein. Bilder können die abenteuerlichsten gegensätzlichen Bedeutungen annehmen, wenn Betrachter sie aus dem Zusammenhang reißen (z.B. die Anspielung auf das Klischee, dass Migranten nur am westlichen Konsum „mitnaschen“ wollen) und in ihren eigenen stellen. Wollte man darauf Rücksicht nehmen, brauchte man Gesetze, dass kein Bild ohne Gebrauchsanweisung im Netz kursieren darf.

Und wieder wird Bote „Charlie“ für die Botschaft gestraft; nicht das Nebeneinander von McDonald's-Aktion und totem Buben auf dem Bild ist anstößig und makaber, sondern ihr Nebeneinander in der Realität. Der französische Zeichner Emmanuel Chaunu hatte bereits am 3. September eine Zeichnung auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht (die von vielen fälschlich ebenfalls „Charlie Hebdo“ zugeschrieben wird): Hier hat der auf dem Bauch am Strand liegende tote Bub einen Schulrucksack auf dem Rücken, dabei stehen die Worte: „Es ist Schulbeginn!“

Das ist das Montageprinzip der Satire, das auch Kraus in den „Letzten Tagen der Menschheit“ verwendete: Dinge in schockierende Nachbarschaft zu stellen, die ja wirklich nebeneinander sind. All diese grausigen Kombinationen sind nur Zitate.

anne-catherine.simon@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.09.2015)

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