Richtungswahl in Wien: König Kyros oder ein neuer Lenin?

Zwei halbstarke Kontrahenten kämpfen am Sonntag um den Gemeindebau. Aber vielleicht sind kleinere Parteien doch das kleinere Übel.

An diesem Sonntag soll es in Wien eine Richtungswahl geben. Zumindest wünschen sich das auf kommunaler Ebene die SPÖ und die FPÖ, die in den Umfragen weit vor diversen Kleinparteien liegen. Sogar die nervösen Wechselwähler im Gegengift haben sich von dieser Panikmache anstecken lassen. Was ist das Wechseln denn noch wert, wenn es fast alle tun? Und was bedeutet dieser Slogan, der immer dann ausgepackt wird, wenn sich zwei Halbstarke um den Sieg prügeln? Der Duden spricht von „Richtungswahl“, wenn „von der (durch die zur Wahl stehende(n) Person(en)) eine Wende in der Richtung erwartet wird“. Geht es also um links oder rechts? Um oben oder unten? Um alt oder neu? Was sagen die richtungsweisenden Parteien?

Konzentrieren wir uns auf Rot und Blau, die großen Kontrahenten im Gemeindebau. Die SPÖ Wien begründet ihre Programmatik so: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Dieser Satz leitet die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ein, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Palais de Chaillot in Paris verkündet wurde. Solch große Worte finden Politiker meist in Wendezeiten. Die Formulierung ist von der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten 1776 abgekupfert, die Franzosen formulierten es im Revolutionsjahr 1789 ähnlich. Man könnte aber auch sagen, dass Wiens SPÖ-Chef, Michael Häupl, den altpersischen König Kyros zitiert, der solch hehres Gedankengut vor zweieinhalb Jahrtausenden auf einen Tonzylinder setzen ließ. Es geht in dem Text des Kyros vor allem um den Sturz des babylonischen Königs Nabonid, der sich mit den Marduk-Priestern angelegt hatte, die dann mit den Persern paktierten. Ein Reich zerfiel.

Und der freiheitliche Herausforderer? Woher nimmt H.-C. Strache seine kulturpolitische Inspiration? Der Chef der Bundes-FPÖ, der nun für das Amt des Wiener Bürgermeisters kandidiert, geht mit seinem griffigsten Zitat nicht Jahrtausende, sondern nur ein knappes Jahrhundert zurück. Er hat auf Plakaten eine „Oktober ,Revolution‘“ ausgerufen, die diesen Donnerstag auf dem Stephansplatz im Wahlkampf ihr Ende fand. Die echte Oktoberrevolution brach über Russland am 7. November 1917 ein, ihr Totalschaden ist bis heute sichtbar. Der damals von den Bolschewiken propagierte „Neue Mensch“ sah bald recht alt aus. Wer von ihrer revolutionären Wirkung wissen will, kann das bei der soeben gekürten weißrussischen Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch nachlesen, etwa in „Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus“.

Was tun am Sonntag? Kyros oder Lenin? Washington oder Trotzky? Robespierre oder Stalin? Vielleicht sind kleinere Parteien das kleinere Übel.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2015)

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