Wenn es gar nicht mehr geht, suchen wir uns ein Jubiläum

Angesichts der Tatsache, dass wir an vielen Dingen rein gar nichts ändern können, empfiehlt es sich, einmal so richtig auszuscheren.

ZWISCHEN
töne
Vielleicht brauchen Sie auch, was man heute „Auszeit“ nennt und früher einmal als einen Moment der Einkehr bezeichnet hat? Jedenfalls sind die Zeitläufte danach. Wenigstens stundenweise darf man sich ja doch gönnen, alles rundherum zu vergessen und in einem Augenblick der Muße – die man sich zu diesem Zweck verordnen darf – etwas tun, was alle Welt ringsum als völlig sinnlos bezeichnet. Zum Beispiel Musik hören.

Und zwar Musik, die gerade nicht im Radio läuft, die gerade nicht in den Konzertprogrammen auftaucht. Musik, an die niemand denkt, wenn es darum geht, zwischendurch einmal eine CD ins Abspielgerät zu schieben – oder sich via Online-Stream berieseln zu lassen.

Die digitalen Medien machen ja möglich, was früher undenkbar war: Der Musikfreund kann quasi in fremden Diskotheken stöbern und dabei echte Entdeckungen machen.

Wollen wir uns für unseren Ausflug in die Irrealität gleich ein Jubiläum zurechtbasteln?

Es ist genau 300 Jahre her, dass der böhmische Meister Jan Dismas Zelenka (1679–1745) daranging, Triosonaten zu komponieren. Das war anno 1715 nichts Besonderes. Aber im Fall von Zelenka lagen die Dinge nicht ganz so, wie seine Zeitgenossen erwarten mochten. Zwei Oboen und Fagott musizieren, von dem damals obligaten „Basso continuo“ begleitet, einem Cembalo oder Clavichord also, das für die harmonische Stütze sorgte.

Oder nicht. Denn Zelenka, der fantasievolle Querkopf, lässt die Bläser schon einmal ganz gegen die damaligen Barock-Benimmregeln ohne den fortlaufenden Bass musizieren.

Auch schreibt er in seinen Stücken des Öfteren Passagen, die gar nicht nach dem polyphonen Gusto der damaligen Schulen waren, mochten sie nun italienisch, französisch oder gar deutsch grundiert sein. Hie und da beginnt er, mit Motiven zu spielen und zu arbeiten, als wollte er, lang vor der Zeit, schon die Ära Joseph Haydns einläuten. Dann wieder führt er die Stimmen in geradezu johannsebastianbachischer Freiheit neben-, mit- und gegeneinander, dass es jedem Kontrapunktlehrer zur Freude gereicht.

All das steht mehr oder weniger kunterbunt nebeneinander, fügt sich aber wie durch Zauberhand jeweils zu durchaus anmutigen kleinen Kunstwerken, in denen sich zuweilen auch atemberaubende chromatische Verschiebungen ereignen, um mit Unschuldsmiene wieder im wohligen Schoß der Ausgangstonart zu landen.

Es ist Musik von eminenter Originalität – die man über Jahrhunderte vergessen hat, ehe in den 1970er-Jahren die Wissenschaft auf Zelenka aufmerksam wurde und ihn durch Neueditionen ins Bewusstsein der Musikanten der heranwachsenden Originalklanggeneration rückte.

Dann taten die leichter zu produzierenden digitalen Medien das Ihrige– und heute liegen Dutzende Zelenka-Aufnahmen vor. Wenn Sie also aus gegebenem Anlass eine kleine Hörflucht antreten möchten. Die Wirklichkeit des Jahres 2015 holt uns gewiss früh genug wieder ein . . .

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.11.2015)

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