Pathetisch und blutrünstig: Die „Marseillaise“ macht Gänsehaut

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Frankreichs Nationalhymne ertönt in der New Yorker Met und im Wembley-Stadion – als Symbol der Solidarität mit einer tief getroffenen Nation.

Wann hätte es dies je gegeben, dass der Bogen über Londons Wembley-Stadion, getaucht in die Farben der Tricolore, die Losung Liberté, Egalité, Fraternité trug? Dass im Fußballmekka die Erzrivalen, die Spieler des englischen und französischen Nationalteams, rund um den Mittelkreis eine Schweigeminute abhielten, dass zuerst „God Save the Queen“ erklang, die Hymne des Gastgebers, und danach erst die „Marseillaise“, und vor allem, dass die bekannt sangesfreudigen, aber der Fremdsprachen notorisch abholden englischen Fans die Hymne der „Frogs“ aus voller Kehle schmetterten. Gut nur, dass der Text über die Leinwände flimmerte.

Wo immer dieser Tage die französische Hymne aus Solidarität mit der zutiefst verunsicherten Nation ertönt – im Stadion wie im Konzertsaal, in den Straßen der Metropolen und zuvörderst in Paris selbst, auf dem Place de la République und in der Nationalversammlung in Versailles –, erfüllt mit kaltem Zorn oder heißem Herzen, kommt Gänsehaut-Atmosphäre auf. In der New Yorker Met leitete Plácido Domingo als Dirigent eine „Tosca“-Aufführung gleichsam als Ouvertüre mit der „Marseillaise“ ein, und im Madison Square Garden standen die Basketballstars der New York Knicks Habt Acht zur Hymne jenes Landes, das der Stadt die Freiheitsstatue geschenkt hatte.

Oft gipfelt die Darbietung, orchestriert von Jubel, im Ruf „Vive la France“. Kaum eine Nationalhymne ist so pathetisch und pompös wie die französische, die im Refrain die „Kinder des Vaterlands“ gegen die Tyrannei zu den Waffen ruft: „Der Tag des Ruhms ist gekommen.“ Und kaum eine andere ist so blutrünstig: Da wimmelt es von „blutigen Bannern“, „durchschnittenen Kehlen“ und von Blut „getränkten Furchen“. Was nicht verwunderlich ist, da die „Marseillaise“ doch als Schlachtlied komponiert ist, aus Anlass eines Kriegs der „Grande Nation“ gegen das Habsburgerreich 1792.

Als Soldaten aus Marseille drei Jahre später, das Lied auf den Lippen, in Paris einzogen, avancierte es zur Nationalhymne und in der Folge zur Hymne von Freiheitsbewegungen in aller Welt; weshalb sich keine andere besser eignet, mit ihrem revolutionären Gestus gegen jedwede Diktatur aufzustehen. Nur folgerichtig, dass sich im Kultfilm „Casablanca“ die Gäste in Rick's Café erheben, um als Akt des Widerstands die „Marseillaise“ anzustimmen.

Im Lauf der Zeit gab es Versuche, die Hymne zu verfremden – nicht zuletzt, da der martialische Text Kontroversen ausgelöst hatte. Serge Gainsbourg reicherte sie mit Reggae-Klängen an; Danielle Mitterrand, die Frau des Präsidenten, versuchte sich an einer pazifistischen Adaption. Doch keine Version entfaltete die Wirkung des Originals. Mag das bloße Absingen die Gegner vielleicht nicht mehr einschüchtern, so eint es die Nation gerade in Krisenzeiten. „Black, blanc, beur“ hieß das Motto der siegreichen französischen Equipe bei der Heim-Fußball-WM 1998: Ob schwarz, weiß oder arabisch – alle fühlten sich als „bleues“, als Franzosen.

thomas.vieregge@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2015)

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