Twitter gibt seine Schranke auf: Ohne Kürze fehlt die Würze

Der Kurznachrichtendienst nimmt Abschied von der identitätsstiftenden 140-Zeichen-Grenze. Das klingt nach einem Akt der Verzweiflung.

Wofür steht Twitter? Wie die Definition schon verrät: Dieses digitale Ding ist ein Kurznachrichtendienst. Seit einem Jahrzehnt presst er Menschen, die meinen, sie hätten der Öffentlichkeit viel zu sagen, ins segensreiche Korsett seiner 140 Zeichen. Prägnant, knackig und schnell müssen die Botschaften in Echtzeit rüberkommen. Was ihrem Autor oft viel schwerer fällt als weites Schweifen und formloses Faseln – wie wir Journalisten nur zu gut wissen. Twitter hat die Vielschreiber dieser Welt in seine strenge Zucht genommen, das geduldige Papier durch die atemlose Ungeduld der Tweets ersetzt.

Und jetzt das: Mitgründer Jack Dorsey, der erst im Herbst als Chef in der Not zurückgeholt wurde, kündigt an, die Einschränkung einzustellen. Künftig kann man seine Mitteilungen auf bis zu 10.000 Zeichen ausufern lassen – das sind bis zu drei voll bedruckte Seiten. Die Nutzer, so heißt es, wollen es so. Weshalb sie das System schon jetzt immer öfter überlisten: Sie machen Screenshots von längeren Texten und fügen sie als Bild hinzu.

Was gegenüber anderen Texten im Netz einen gravierenden Nachteil hat: Man kann nicht über Stichwörter nach seinem Inhalt suchen, weder auf Twitter selbst noch über externe Suchmaschinen. Wie um seine Kapitulation zu demonstrieren, hat auch Dorsey seine lange Erklärung der Zeitenwende als Textbild getwittert.

Ein schwerer strategischer Fehler, klagen nun viele treue Fans. Denn mit dem wichtigsten Abgrenzungsmerkmal verliere das soziale Netzwerk seine Identität, macht sich dem viermal größeren Konkurrenten Facebook immer ähnlicher – und mit der Zeit dann obsolet. Ein ebenfalls großes Lager begrüßt aber den Wandel. Die Obergrenze für Zeichen ist in der digitalen Welt offenbar ein ähnliches Reizwort wie jene für Flüchtlinge in der Politik.

Schon seit vorigem Sommer ist das Limit für Direktnachrichten aufgeweicht. Und noch viel länger gibt es das Phänomen des „Tweetsturms“: Besonders mitteilsame Zeitgenossen lassen viele Nachrichten dicht aufeinander folgen – was freilich immer schon einen leicht besessenen Eindruck vom Verfasser vermittelt hat.

Hinter dem Paradigmenwechsel bei Twitter stehen wirtschaftliche Sorgen. Der Zuwachs bei den Nutzerzahlen schwächt sich deutlich ab. Wer allen etwas sagen will, ist schon lang dabei. Neueinsteiger machen sich rar. Ob Schrankenlosigkeit sie locken kann? Dorsey hat vorsorglich den Gründungsmythos seiner Firma umgeschrieben: Am Anfang stand angeblich nur die Idee, allen sofort etwas mitteilen zu können. Die Zeichengrenze habe sich erst später ergeben, damit die Texte in eine SMS-Botschaft passen. Das klingt freilich so, als wolle ein Ketzer die Genesis umschreiben: Gott hat die Menschen am siebenten Tage nur so nebenbei erschaffen, weil ihm noch etwas Lehm übrig blieb.

E-Mails an: karl.gaulhofer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.01.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.