Ein Leuchtturm steht am Meer, ich steh daneben

Nein, über die Zentralmatura in Mathematik wird hier nicht gespottet. Das ist kein Lösungsweg für reife Männer.

Unlängst haben nahe Verwandte ultimativ von mir verlangt, dass ich ein Rätsel löse: Wir stehen auf einer Terrasse, 28 Meter über dem Meer, vor uns ist am Wasser ein Leuchtturm zu sehen. Der Tiefenwinkel zum Fuß dieses Turms beträgt neun Grad, der Höhenwinkel zu seiner Spitze zwölf Grad. Wie hoch ist also dieses Gebäude? „Kein Problem“, sage ich, „einen Moment, da muss ich nur einen kurzen Anruf machen.“

Dieser wird gnädig gewährt. Aber meine alten Lehrer sind leider nicht erreichbar oder gar schon tot. Da hilft gar nichts mehr. Auch den logischen Einwand, dass es solche Dinge in Wien nicht gebe, lassen die Forscher nicht gelten, also gilt es zu schätzen. Die Auswahl zwischen Neusiedler See und Bodensee ist ohnehin beschränkt – alles nur eine Frage der Wahrscheinlichkeit. In Podersdorf gibt es einen Leuchtturm mit elf Metern Höhe, in Bregenz gar mit unglaublichen 30 Metern. „Euer Turm ist 20,5 Meter hoch“, sage ich mit Bestimmtheit. „Falsch“, tönt es triumphierend zurück.

Was soll ich sagen – dieses demütigende Erlebnis beim Abendessen hat mich zu dem Entschluss gebracht, dass im „Gegengift“ auf gar keinen Fall über die Zentralmatura in Mathematik gespottet werden darf. Wem würde das etwas nützen? Denjenigen, die eine fast erotische Beziehung zu Zahlen und geometrischen Verhältnissen haben, fehlt das Verständnis dafür, dass die Aufgaben zu leicht oder zu schwer sind. Für sie gibt es nur die Unterscheidung zwischen lösbar und nicht lösbar. Der Rest, und er ist wahrscheinlich sogar noch größer als die Gruppe der Nichtwähler, schaltet wohl automatisch ab, wenn er die Namen der drei babylonischen Magier Sinus, Cosinus und Tangens auch nur aus weiter Entfernung zu hören meint.

Gegen meine jungen Herausforderer helfen also nur noch Winkelzüge: a)Ehrlichkeit, b)eine Notlüge sowie c)ein bewährter Trick. a)„Tiefenwinkel? Nie gehört!“ b)„Trigonometrie war vor 40 Jahren noch nicht so weit entwickelt, wir hatten meist Vierecke und zudem keine Taschenrechner.“ c)„Könnt ihr mir sagen, wie das geht?“

Nach zehn Minuten sind mir all die verborgenen Geheimnisse zumindest von Dreiecken mit rechtem Winkel erklärt, weitere zehn Minuten später glaube ich kurz sogar zu verstehen, was man mit dem Einheitskreis alles anstellen kann. Nach einer halben Stunde ist das Leuchtturm-Problem gelöst. Aber das Ergebnis wird aus pädagogischen Gründen nicht verraten.

E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2016)

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