Angela Merkel versteht die „Welt“ nicht mehr

Solche Presse bekommen Politiker selten: Joachim Gauck wird als Präsidentschaftskandidat von Medien links und rechts geherzt.

Der deutsche Bundespräsident Horst Köhler hatte erst vor Stunden seinen Rücktritt erklärt, CDU, CSU und FDP waren noch in Schockstarre, da schickte am 31.Mai die konservative Tageszeitung „Die Welt“ abends einen Kommentar online, der einen kopflosen Rücktritt konstatierte, in einem Nachsatz in Retrospektive aber berechnend scheint: „Jetzt bitte keine Notlösung, keine Versorgungslösung, kein Wegloben und kein Versuch, nach einem willfährigen Kandidaten Ausschau zu halten. Wie wäre es mit Joachim Gauck, einem Mann, der aus dem Osten kommt und der jenen Geist der Freiheit gut verkörpert, dem sich die Bundesregierung ausweislich des Koalitionsvertrages doch irgendwie verpflichtet fühlt?“

Der protestantische Pfarrer Gauck war Mitbegründer des Neuen Forums, jener Bürgerbewegung in der DDR, die 1989 wesentlich für die Wende war, er war erster Bundesbeauftragter zur Aufarbeitung der Stasi-Akten – ein wirklich integrer Mann, eine kluge „Welt“-Idee also, die nicht nur braven Ossis grün ist. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mag diesen Kommentar gelesen haben, beherzigt hat sie ihn nicht. Sie entschied sich für das Wegloben, für die Kandidatur ihres Parteifreundes Christian Wulff, Niedersachsens Ministerpräsident.

Inzwischen aber war bereits eine Medienkampagne für Gauck angelaufen, die seltsam parteiübergreifend ist. Bereits am 1.Juni platzierte „Spiegel“-Online den Vorschlag des Springer-Blattes prominent in den Pressestimmen, die „Welt“ führte ihre Kampagne täglich konsequent fort, und an diesem Montag zierte ein heroisches Porträt von Gauck die Titelseite des linksliberalen Magazins „Der Spiegel“. Darunter steht: „Der bessere Bundespräsident“. Zuvor hatte bereits „Bild am Sonntag“ gewusst: „Yes, we Gauck“. Und bei einer Online-Umfrage der „Welt“ unter ihren Lesern lag Gauck zuletzt mit 77 zu 23 Prozent vor Wulff.

Da war Gauck bereits Kandidat von SPD und Grünen. Die hatten ihn der Kanzlerin am Mittwoch sogar als überparteiliche Lösung vorgeschlagen. Und dann schrieb auch noch die konservative „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ eine Empfehlung: „Der bürgerliche Held, auf den das Land wartet, heißt Joachim Gauck.“ Das klingt nicht parteiisch, sondern fast schon bürgerbewegt.


Merkel hatte sich aber für Wulff entschieden. Sie steht nun vor der Wahl des Präsidenten durch die Bundesversammlung vor schwierigen Fragen: Wie zuverlässig ist ihre Koalition in Kampfabstimmungen? (Zwei Dutzend Freidenker genügen für Merkels Fiasko.) Die „Süddeutsche Zeitung“ bewertete das am Freitag so: „Gauck hat kaum eine Chance, aber es ist zu erwarten, dass er bei seiner 30-Tage-Bewerbung eine ziemlich gute Figur abgibt.“

Wer macht dann die schlechte Figur? Das führt zur zweiten Frage: Kann man gegen Springer, „Spiegel“ und den Großteil der Medien mehrheitsfähig bleiben? Die CDU-Chefin sollte Altkanzler Helmut Kohl fragen, wie es ist, auch nur einen Sommer gegen „Bild“ zu regieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2010)

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