Leitartikel: Die Schimäre vom ganz normalen Partner Russland

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er Fall des tagelang unterge tauchten Präsidentschaftskandi daten Iwan Rybkin; die hitzige öffentliche Debatte darüber, wie viele Menschen nun tatsächlich bei dem verheerenden Terroranschlag auf die Moskauer Metro vergangene Woche ums Leben gekommen sind: 39 Tote, wie offiziell behauptet oder aber mehr als 100, wie die Tageszeitung "Nowaja Gaseta" ermittelt hat? Die jüngsten Schlagzeilen aus der russischen Innenpolitik sind ein paar weitere grobe Pinselstriche im politischen Sittenbild, das das größte Land der Erde gegenwärtig bietet.

Putins Russland ist nach wie vor kein "normales Land" im westlichen Sinne. Und nicht nur die liberale Herausforderin des jetzigen Staatschefs bei den Präsidentenwahlen am 14. März, Irina Hakamada, warnt: "Wir erleben die Renaissance der Sowjetunion - nur dieses Mal ohne den Kommunismus, dafür wieder mit einer Einparteienherrschaft."

Auch die US-Regierung ist inzwischen darauf gekommen, dass George W. Bushs Schmusekurs gegenüber Wladimir Putin der Durchsetzung westlich-liberaler Wertvorstellungen in Russland nicht wirklich geholfen hat. Jetzt, im anlaufenden US-Wahlkampf, rudert Washington zurück: Außenminister Colin Powell bewertete vor zwei Wochen in einem Beitrag für die "Iswestija" den Stand der Demokratisierung in Russland äußerst negativ ("die politische Macht ist noch nicht völlig an das Gesetz gebunden"). Und der republikanische Senator John McCain sprach jüngst bei der Münchner Sicherheitskonferenz gar offen von einer "Erosion der Demokratie in Russland". Putins Herrschaft beruhe weder auf Rechtsstaatlichkeit, noch auf Pluralismus und auch nicht auf Respekt vor der Souveränität der Nachbarstaaten. Der einflussreiche Senator aus Arizona legte auch gleich noch ein Sündenregister vor - von der Gängelung der Opposition und der Medien durch Moskau bis zum heimtückischen Treiben russischer Agenten in Russlands Nachbarschaft.

Natürlich geht es zwischen Washington und Moskau letztlich genau um diesen Punkt: um das geopolitische Ringen um Macht und Einfluss im post-sowjetischen Raum. Die Russen versuchen dabei auszunützen, dass die Glaubwürdigkeit Amerikas durch die außenpolitischen und militärischen Alleingänge der jetzigen US-Regierung weltweit Schaden genommen hat. Aber ist Moskau dadurch schon berechtigt, in der Peripherie seines früheren Herrschaftsgebietes eine versteckte neo-imperiale Agenda zu verfolgen?

Putin hat Russland in den vergangenen vier Jahren gewiss Stabilität gebracht - allerdings die Stabilität einer Autokratie. Die politischen Reflexe der jetzigen Herrschaftselite in Moskau nach innen und nach außen sind bürokratisch und autoritär. Das zeigt sich etwa in der Verfolgung des politisch unliebsam gewordenen Oligarchen Michail Chodorkowskij; das zeigt sich aber auch, wenn neuerdings wieder westliche Journalisten, die kritisch über die Menschenrechtslage in Russland und den Krieg in Tschetschenien berichtet haben, kein Einreisevisum mehr bekommen, also ausgesperrt werden.

Putin kann bei den Wahlen am 14. März nach Stand der Dinge mit 80 Prozent Zustimmung der Wähler rechnen. Nichts deutet derzeit aber darauf hin, dass er seine zweite Amtszeit dazu nutzen wird, das Land hin zu einer echter Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu steuern.

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ussland wird also in der Ära Pu tin-II vielleicht ein stabiles, aber sicher kein normales demokratisches Land werden. Für die USA, aber genauso für die EU kann das nur bedeuten, dass es normale Beziehungen zu Moskau nicht geben kann: Das heißt in der Praxis, dass Russlands Demokratie-Defizite nicht weiter schamhaft verschwiegen werden können, wie das der US-Präsident und viele europäische Regierungschefs in den vergangenen vier Jahren getan haben, ohne damit irgendeine Verhaltensänderung ihres "guten Freundes" Putin zu bewirken.

b.bischof@diepresse.com

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