Als ich ein Bettler war, oder: Aufdeckungsjournalismus anders

Dass sich eine Krankenschwester umbrachte, weil sie einen Scherz ernst nahm, lässt über Undercover-Methoden nachdenken.

Journalisten sind Taglöhner der Literatur, heißt es; nichts sei älter als die Zeitung von gestern. Es ist deshalb verständlich, dass heute vergessen scheint, was sich vor ein paar Tagen in London zugetragen hat und, wie es aussieht, vieles von dem infrage stellt, was bisher unter „verdecktem Journalismus“ zu verstehen war. „Wallraffinismus“ hat man ihn auch gelegentlich genannt. Er ist nur am Rande mit dem zu vergleichen, was wir „Aufdeckungsjournalismus“ nennen. Aber etliches Kopfzerbrechen scheint geboten.

Wallraffinismus. Unter falschem Namen und unter Vortäuschung falscher Identität recherchieren. Fakten aufspüren und bisweilen auch aufzeigen, die der Öffentlichkeit unter normalen Umständen nicht bekannt geworden wären – wobei das öffentliche Interesse oft fraglich bleibt. Günther Wallraff, umstrittener deutscher „Aufdeckungsjournalist“ (etliche Artikel hat er, wie sich herausstellt, gar nicht selbst geschrieben), hat dieser Methode seinen Namen gegeben. Einer Methode, die sogar tödliche Folgen haben kann, für ein Magazin und manchmal auch für einen Menschen.

Die britische Sonntagszeitung „News of the World“ musste wegen oftmaligen illegalen Abhörens von Mobiltelefonen eingestellt werden. Und jüngst hat sich in London ein junge, aus Indien stammende, in einer vornehmen Privatklinik beschäftigte Krankenschwester umgebracht, weil sie dem fingierten Anruf einer australischen Rundfunkmoderatorin „aufgesessen“ war. Diese hatte sich als Queen ausgegeben und sich nach dem Befinden von Herzogin Kate erkundigt, der schwangeren Frau von Prinz William. Schwester Jacintha Saldanha, die das Telefonat an die Station weiterverbunden hatte, konnte den folgenden Spott nicht ertragen und hat sich erhängt. Sie hinterlässt einen Ehemann und zwei Kinder.


Die Geschichte hat mich betroffen gemacht. War der „Scherz“ der Australierin legitim? Man hat sie außer Dienst gestellt, nachdem die Konsequenzen bekannt geworden waren. Parallelen zur Recherchiermethode der Dame hat es schon früher gegeben; sie waren meist nicht als Scherz gemeint. Bereits anno 1962 hatte ich, als Bettler verkleidet und vom Fernsehen gefilmt, herausfinden wollen, wie viel man lukrieren kann, wenn man auf der Straße sitzt und die Hand aufhält. Sogar eine spanische Zeitung hat damals darüber berichtet.

Noch war freilich „Wallraffinismus“ nicht en vogue, dafür aber „Undercover-Journalismus“ für diese Zeitung. Als „guter Onkel“ versuchte ich (nach Verständigung der Polizei) in einem Park zu erproben, ob Kinder mit Schokolade zum Mitgehen zu verlocken wären. Oder ich organisierte, dass sich eine Kollegin als Ausländerin einem Wiener Fiaker anvertraute – und notierte, wie er die Sehenswürdigkeiten beschrieb. Oder ich brachte zuwege, dass ein anderes weibliches Redaktionsmitglied einige Stunden als Verkäuferin in einem Warenhaus arbeitete.

Alles das war lange, bevor Wallraff unerkannt in der „Bild“-Zeitung werkte. Und bevor es Mobiltelefone gab mitsamt ihren Abhörmöglichkeiten. Wir brachten Storys zutage – sonst nichts. Es war genug. Irgendwie scheint heute der verdeckte Journalismus eine Spur von Haut goût erhalten zu haben, ob an der Donau oder der Themse. Das ist schade, denn der Zweck darf die Mittel heiligen. Wenn es ein guter Zweck ist – ohne kriminelle Mittel. Und ohne tödliche Folgen.


Der Autor war langjähriger Chefredakteur und Herausgeber der „Presse“.


E-Mails an: thomas.chorherr@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.12.2012)

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