Neu im politischen Wörterbuch: Was heißt „Rücktrittskultur“?

Von einem Atheisten, der „Religionssprecher“ war, und einer Bildungsministerin als „dead woman walking“.

Nun kracht's auch bei den Neos im Gebälk. „Recht g'schieht's ihnen“, sagen viele. Sie haben sich bei den Erwartungen für die Europawahlen überschätzt, haben Probleme bei dem einen oder anderen Bundesland, und jetzt wurde sogar Niko Alm seiner Funktion beraubt. Teilweise zumindest. Er ist nicht mehr „Religionssprecher“, was immer das für einen bekennenden Atheisten, dessen Glaubensbekenntnis darin besteht, an nichts zu glauben, auch heißen mochte.

Und immerhin sind die Neos ja auch bisher die einzige Partei gewesen, die einen „Religionssprecher“ hatte, ob mit oder ohne Nudelsieb auf seinem Passfoto. Es bleibt freilich die Frage, ob der erzwungene teilweise Rückzug des Niko Alm (erinnern wir uns: Er war einer der Wortführer des Antikirchenvolksbegehrens) – ob also diese politische Pleite nicht etwas mit einem Begriff zu tun hat, den man mit „Rücktrittskultur“ umschreiben könnte.

Fällt einem da nicht gleich Karl V. ein, der sich vom Höhepunkt der Macht in ein Kloster zurückgezogen hat? Aber warum in der Geschichte stöbern, wenn man aktuelle und halb aktuelle Beispiele an der Hand hat, die sogar mit Religion zu tun haben. Benedikt XVI. ist zurückgetreten, weil er sich aus gesundheitlichen Gründen seiner Funktion nicht mehr gewachsen gefühlt hat. Es war in der Tat ein Rücktritt, der ihm und seinem Amt Ehre erwies. Joseph Ratzinger war (aufgepasst, Niko!) ein Pontifex, der allgemein geachtet und von vielen geliebt war.


Aber Herrscher, ob geistliche oder weltliche, treten nicht zurück, sagen viele. An Gegenbeweisen mangelt es nicht. Der letzte Fall war der des spanischen Königs. Juan Carlos, in der Jugend geachtet und im Alter infrage gestellt, überließ die Krone überraschend seinem Sohn, Felipe. Weniger überraschend war der Thronverzicht der holländischen Königin Beatrix zugunsten ihres Sohnes Willem-Alexander. An demokratisch gewählten Staatsoberhäuptern fällt einem natürlich sofort der Amerikaner Richard Nixon ein, der zurücktreten musste, weil er den Ansprüchen der Präsidentschaft nicht mehr genügte. Und ein „Impeachment“ drohte.

Aber warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah. Oder das Schlechte? Bewundernswert waren für mich die Rücktritte Theodor Piffls als Unterrichtsminister, weil er das neunte Mittelschuljahr nicht durchdrücken konnte, und der zeitweilige Amtsverzicht von Josef Klaus als Finanzminister – der dann freilich als Bundeskanzler wiederkam. Jenseits des Ärmelkanals lässt in diesen Tagen David Cameron an eine Redewendung denken, die gerade hundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wieder aktuell erscheint: „Perfides Albion!“ So sagten damals England-Hasser. Perfid ist in der Tat Camerons offenbare Absicht, die EU zu zerstören.

Aber das Volk ist vergesslich, und die österreichischen Wähler sind es noch mehr. Sonst wäre, apropos Rücktrittskultur, Gabriele Heinisch-Hosek gendergerecht als „dead woman walking“ zu bezeichnen. Vom angeblich größten Datenleck der Schulgeschichte, geheime Testergebnisse und E-Mail-Adressen betreffend, die in Rumänien aufgetaucht sind, über das Chaos mit der Zentralmatura bis zu der abgesagten PISA-Studie reicht das Sündenregister der Bildungsministerin. Ein Rücktritt wäre überfällig.

Aber Österreich ist anders. Auch seine „Rücktrittskultur“. Wenn der „Religionssprecher“ der Neos seine Funktion verliert, ist alles gut. Reden wir nicht mehr darüber.

Der Autor war langjähriger Chefredakteur und Herausgeber der „Presse“.


E-Mails an: thomas.chorherr@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.06.2014)

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