MERK'S Wien: Der Shitstorm bläst, wo er will Ist Andreas Gabalier ein Held?

Von großen Töchtern, Hitlers kaltblütigen Furien aus Wien und anderen Missverständnissen, die „fremdschämen“ lassen.

Man lernt nie aus – auch wenn man ein alter Journalist ist. „Zu meiner Zeit hat's das nicht gegeben“, pflege ich dann zu sagen. Der Beispiele gibt es immer mehr. Vom Shitstorm etwa hatte ich zu dieser, meiner Zeit nichts gehört. Heute umweht er manche, ja viele der Zeitgenossen und Zeitgenossinnen. Der Shitstorm hat sich in den sozialen Netzwerken eingenistet und treibt auch in Blogs, auf Twitter und Facebook sein Unwesen. Ein Scheißsturm in der Tat, einer der Anglizismen, die unsereinen zwingt, beim Zeitunglesen das Englischwörterbuch griffbereit zu haben.

Aber vielleicht gehören wir, ich darf in der Mehrzahl sprechen, zu jener Menschengruppe, die Elizabeth T. Spira, selbst 71 Jahre alt, im „Kurier“ gemeint hat, als sie in einem Interview postulierte: „All diese Dinge sind nicht aufzuhalten. Es dauert immer ein paar Jahre, bis eine etwas vertrottelte Generation ausstirbt und eine vernünftigere nachkommt.“ Ungeachtet meiner Abneigung gegen ein Übermaß des Englischen im Deutschen muss ich sagen: „Look who is talking!“ Frau Spira ist auch nicht mehr die Jüngste.

Aber sie blickt mit ihren „Liebesg'schichten und Heiratssachen“ in die Seele der Menschen, und die lassen ihre Herzen ausleuchten. Dabei ging es der Filmemacherin und Interviewerin auch um die Bundeshymne und deren „Feminisierung“. Deretwegen hat Andreas Gabalier, der es gewagt hatte, den alten Text zu singen, einiges aushalten müssen. Eine Ex-Frauenministerin (nein, es war nicht Gabriele Heinisch-Hosek, diese „Dead Woman Walking“) hat in einer Diskussion erinnert, dass er nach seiner Windelperiode immerhin seinen Schließmuskel zu beherrschen verstanden hat. Gabalier, der an und für sich nicht meinem Geschmack entspricht, ist diesfalls in meinen Augen und Ohren ein Held, weil er nicht reagierte.


Aber auch der Shitstorm weht, wo und wie er will – und die „vertrottelte Generation“ (© Spira) findet man nicht nur bei den Alten. Mir fielen etliche Bespiele ein; es wäre verfehlt, das alles als Trottelei zu bezeichnen. Eine Sprachwissenschaftlerin der Uni Wien hat etwa allen Ernstes vorgeschlagen, Somali als Unterrichtssprache einzuführen, weil es in Simmering so viele Afrikaner gebe. Etliche „politisch Korrekte“ verdammen Polizisten, weil sie auf einen Tankstellenräuber schossen, der sie bedrohte. Ja, derfen's denn des? Im „Standard“ begann eine aus guten und aktuellen Gründen aufschlussreiche Serie über „große Töchter“ unseres Landes, mit Bertha von Suttner als Bannerträgerin. Ein paar Seiten weiter las man die Rezension des Buchs einer US-Historikerin über „deutsche Frauen im Holocaust“. Titel im „Standard“: „Hitlers kaltblütige Furien aus Wien“.

Der Shitstorm kann auch durch die Medien blasen und sogar Allianzen zu zerstören drohen. Derzeit muss sich Washington zu Recht vor den widrigen Winden schützen, die aus Europa über den Atlantik blasen. Wir sind alle zu „gläsernen Menschen“ geworden, und dies ist ein generationenübergreifendes Problem. Man findet kaum noch eine Privatsphäre, und zu Recht ist „Fremdschämen“ zu einer der aktuellsten Wortschöpfungen geworden. Es gibt, heißt es, immer weniger von dem, was man Intimität nennen könnte – außer sie wird freiwillig verletzt. Die vielen Adabeis sind glücklich.

Und auch Kollegin Spira freut sich. Sie kann – eine fernsehjournalistische Meisterleistung! – aus den Menschen herausholen, was sie ansonst kaum preisgegeben hätten. Aber es dauert eben, bis eine etwas „vertrottelte Generation ausstirbt und eine vernünftigere nachkommt“. © bis auf Weiteres.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.07.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.