"Gemma aufarbeiten, Burschen!": Stolpersteine im Gedenkjahr 2015

Wenn ein Jungdramatiker über Desertion und Denunziation schreibt, weiß man, was zu erwarten ist.

Und wieder ein neues Gedenkjahr! Gerade haben wir 2014 hinter uns gebracht, und schon dämmert 2015 – schicksalsschwer wie das vorige, reich bepackt mit Erinnerungskultur und, wohlgemerkt, auch Erinnerungspolitik. Noch sind die Buchhandlungen voll, was an historischer Literatur an 1914 erinnert. 2015 wird es nicht anders sein – wollen wir wetten? Im Gegenteil: Im kommenden Jahr spielt ein Begriff eine große Rolle, der anno 14 (2014, nicht 1914!) nicht so direkt in das allgemeine Bewusstsein gedrungen ist. Von der Erinnerungspolitik ist die Rede.

Sie nimmt in unserem Land einen wichtigen Platz ein, spielt eine große Rolle – und muss doch allzu häufig mit einem Motto versehen werden, das ich immer wieder geschrieben habe und auch weiterhin schreiben werde: Erinnerung ist eine Tochter der Zeit. Ebenso wie es die Erinnerungskultur ist. Sie konzentriert sich dann immer wieder auf eine Forderung, der zu folgen vor allem von uns Journalisten verlangt wird: „Gemma aufarbeiten, Burschen!“ Dass es fast mehr Aufarbeiterinnen gibt – das ist eine andere Geschichte.

Allein, es war ein junger Dramatiker, der den Auftakt zum Gedenkjahr 2015 dirigiert hat. „Ermöglicht durch das Dramatikerstipendium der Stadt Wien“ las ich im Programmheft des Akademietheaters, wo jüngst die Uraufführung von „Die Unverheiratete“ von Ewald Palmetshofer (Jahrgang 1978) stattgefunden hatte. Er hat „aufgearbeitet“, der junge Dichter, was indessen längst preisgekrönt ist. Im ersten Drama des neuen Gedenkjahres (das, wie denn auch nicht, geflissentlich von der Kritik bejubelt wurde) ging es um Desertion und Denunziation. Auch das Theaterpublikum sei begeistert gewesen, las ich. Ich war es nicht.


Denn ich fürchte mich schon vor dem, was in diesem Jahr noch alles auf uns zukommen wird. Gewiss, ich freue mich, das 150-Jahr-Jubiläum der Ringstraßeneröffnung feiern zu dürfen, dieses Wiener Prachtboulevards. Aber ich fürchte, dass dies da und dort der Anlass sein könnte, wieder die Sünden des Hauses Habsburg zu erörtern. Ich freue mich, dass die Technische Universität gleichfalls 150 Jahre alt sein wird. Aber ich fürchte, dass irgendjemand auf die Idee kommen könnte zu forschen, ob es unter den Wiener Technikern nicht allzu viele Nazis gegeben hat. Ich freue mich über die 650-Jahr-Feier der Alma Mater Rudolphina, aber ich fürchte mich, dass mehr über 1938 als über 1365 gesprochen werden wird. Ich freue mich schließlich auch, dass man sich der 1815 unterzeichneten Schlussakte des Wiener Kongresses entsprechend entsinnen wird. Aber ich bin skeptisch, ob die damals so positive Rolle der Russen entsprechend gewürdigt wird. Mit ihnen ist die EU ja heute nicht gerade herzlich verbunden – zu beider Nachteil.

Und ich freue mich natürlich vor allem, dass man das Kriegsende und die Befreiung im Mai 1945 in diesem Gedenkjahr 2015 entsprechend feierlich begehen wird. Aber ich würde Wert darauf legen, sich auch der letzten Bombardements zu erinnern, die gerade in den ersten Monaten 1945 die Stadt Wien heimsuchten. Das ärgste war jenes vom 12. März, am Tag vor dem Anschlussgedenken. Fast alle Prunkbauten der Ringstraße wurden damals schwer getroffen. Uns Schulkindern, die in Wien geblieben waren, war dies fast Armageddon – wenn wir gewusst hätten, was das ist.

2015 sieht man nichts mehr davon. Noch im Sommer 1945 begann das Aufräumen. Für das Aufarbeiten war nachher Zeit.

Der Autor war langjähriger Chefredakteur und Herausgeber der „Presse“.
E-Mails an: thomas.chorherr@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2014)

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