Neues Bett für den Mainstream: Was bleibt, sind Ampelpärchen

Die künftige Elite der Nation übt allzu oft politische Abstinenz zugunsten missverstandener Toleranz.

Nein, vom Song Contest – ESC wird er neuerdings genannt – soll in diesem Kommentar nicht die Rede sein. Oder jedenfalls fast nicht. Dreihundert Millionen haben ihn angeblich per TV gesehen. Ich war nicht darunter. Ich habe mich mehr für die Wahlvorbereitungen in zwei Bundesländern interessiert. Der Urnengang hat gestern stattgefunden, die Resultate und Kommentare finden Sie, wie es so schön heißt, „im Blatt“.

Und auch die Wahlbeteiligung, die immerhin beträchtlich höher war als jene an den Hochschulen. Die hatten vor ein paar Wochen zum Urnengang gerufen, und das Resultat war niederschmetternd. Noch nie sind so wenige Studenten und Studentinnen zur Wahl gegangen: kaum 25 Prozent. Und das soll die künftige Elite der Republik sein! Verständlich, dass dieses Debakel schnell unter den Tisch gekehrt wurde. Verständlich auch, dass die ÖH trotz allem noch ernst genommen werden will. Sie sollte es nicht mehr sein.

Denn am Beispiel dieser Wahlen zeigt sich das zunehmende Desinteresse der jungen Österreicher an der Politik. Anderes ist viel unterhaltsamer. Der Mainstream sucht sich ein neues Bett. Gelegentliche Strudel kommen zwar vor, ändern aber nichts an der Tatsache, dass das wirklich Wichtige in der öffentlichen Meinung streng vom weniger Wichtigen, ja vom Unwichtigen getrennt wird. In der Welt mag vorkommen, was will – wir haben Conchita Wurst. Und wir bleiben dabei.

Nicht Mann, nicht Frau? Typisch für Österreich. Wir wollen uns nicht entscheiden. Denn wir sind ja so ungemein tolerant. Wien hat jetzt sogar den Ehrgeiz, eine Stadt zu sein, wo der Gendermix üppig ins Kraut schießt. Die Fußgängerampeln zeugen davon.


Was ist da eigentlich die Ursache dafür, dass der Offenbarungseid politischen Interesses, manifestiert nicht zuletzt durch die Wählerabsenz in den Hochschulen, Hand in Hand geht mit Entwicklungen von weitaus größerer Dimension? Dass sich die öffentliche Meinung immer wieder so deutlich von der veröffentlichten unterscheidet? Der Fragen gibt es genug, an Antworten mangelt es.

Warum etwa haben die Österreicherinnen und Österreicher anno 1956 – ich bin dabei gewesen, als die Grenzen geöffnet wurden – rund 200.000 Ungarn in wenigen Wochen, ja Tagen, aufgenommen? Warum ist 1968 Ähnliches an der tschechischen Grenze geschehen? Heute – machen wir uns nichts vor! – ist die allgemeine Grundstimmung nicht gerade asylantenfreundlich. Und das, obgleich sich die mahnenden NGOs gegenseitig auf die Zehen treten.

Ist es, weil, wie im Fernsehen ersichtlich, es sich nicht zuletzt um Schwarzafrikaner handelt? Ist es, weil die Frage nach deren Fluchtgrund nicht entsprechend beantwortet wird? Ist es schließlich auch, weil im Wahljahr 2015 die Politik Rücksicht auf den Mainstream nehmen muss – und der ist, wie gesagt, von Strudeln und Untiefen durchsetzt?

Die österreichische Toleranz ist von ganz eigener Natur. Die gemischt sexuellen Wiener Verkehrsampeln gelten einerseits als Weltsensation – und, notabene, auch als Ursache für Weltgelächter. Dass andererseits der Welt das Lachen vergehen könnte, wenn das absolute Böse (ja, das gibt es, heute in Gestalt des Islamischen Staats) sich ausweitet, wird kaum zur Kenntnis genommen. Buchstäbliches Köpferollen in Palmyra? Wenn schon.

Wir haben ja unsere Mann-Frau, unsere Conchita. Brauchen wir mehr? Na eben!

Der Autor war langjähriger Chefredakteur und Herausgeber der „Presse“.
E-Mails an: thomas.chorherr@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2015)

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