Sommer 2015: Was noch geschah. Die Kehrseite des Touristenhochs

Bei allem Schrecklichen der letzten Monate sollte hierzulande auch das nur Lästige nicht übersehen werden.

Nein, von den Flüchtlingen soll hier nicht die Rede sein. Ausnahmsweise nicht. Die Medien, alle Medien, gedruckt und elektronisch, haben zu Recht in den letzten Tagen mehr als ausführlich über die entsprechenden Probleme berichtet. Im Fernsehen konnten wir die Hoffnung der Tausenden miterleben, nach der vermeintlichen Todesgefahr sichere Länder erreichen zu können, vor allem Deutschland. Aber auch Österreich ist darunter.

Zu Recht auch haben die Medien ihre Konsumenten im Überfluss darüber informiert, was zu Ende dieses hitzeschwangeren Sommers am interessantesten schien. Im Wiener Kommunikationsdschungel war es, wie gesagt, zweifellos die Flüchtlingsfrage. Ist es gestattet, mit einigem ergänzend aufzuwarten, das in Anbetracht der Völkerwanderung, die wir derzeit erleben, fast sekundär anmutet?

Dass etwa der IS-Terror angesichts des millionenfachen Flüchtlingselends zweitranging scheint, mag verständlich sein. Er ist es nicht. Wir sind hier mit dem absoluten Bösen konfrontiert, und es gehört mit allen, wirklich allen Mitteln ausgemerzt. Mag sein, dass Amnesty International – Menschen, Menschen samma alle! – weichherzig ist. Das absolute Böse aber ist, wo immer es sich rührt, zu vernichten. Mit allen Mitteln. Ich war in Palmyra, als es noch unversehrt war. Ich weiß, wovon ich schreibe.

Aber lassen wir das Schwerwiegende. Es gibt vieles, das leichter wiegt und trotzdem verdient, der Erinnerung dieses Sommers entrissen zu werden, der jedenfalls – merk's Wien – auch etliches lokal politisch Interessantes aufzuweisen hatte. Die Kehrseite des Touristenhochs gehört dazu.


Kann etwa jemand leugnen, dass in den europäischen Fremdenverkehrszentren (und Wien gehört zweifellos dazu) keine andere Touristenmetropole in ihrem Zentrum ähnlich viele Bettler und Bettlerinnen (bitte die Genderisierung zu beachten!) aufweist wie die österreichische, notabene in der Kärntner Straße? Dürfen anderswo kürzest behoste Damen (?) und ihre ähnlich bekleideten Begleiter einen Dom betreten, ohne wenigstens Eintritt zu zahlen? Das Budget der Wiener Erzdiözese würde dadurch beträchtlich entlastet.

Dürfen Rundfahrbusse – „Big Bus“ ist ein besonders abschreckendes Beispiel – an ihren Haltestellen mit ihren wartenden Passagieren die Gehsteige verbarrikadieren? Ist die City wirklich nur mehr ein einziges Disneyland, dessen Attraktionen kostenlos zur Verfügung stehen?

Bleibt als eine der wichtigsten Fragen, die noch immer der Beantwortung harren, jene nach der Sonntagsöffnung der Geschäfte. Die wenigen, die derzeit offen halten dürfen, sind Ramschläden der Souvenirbranche. Eine Einigung mit der Gewerkschaft wäre überfällig. Die „Goldenen Horden“ könnten auf diese Weise umgeleitet werden. Vielleicht füllt sich dann das viel zitierte Goldene Quartier.

Aber was ist das alles, verglichen mit der Völkerwanderung von 2015. Sie hat auf erschreckende Weise auch Österreich erfasst, mit den 71 Erstickten auf der Autobahn. Ich musste an meine Schulzeit denken, als wir nach 1945 in der Wochenschau Berge nackter Leichen ansehen mussten, Opfer von deutschen Konzentrationslagern, die mir heute noch in Erinnerung sind. Ich war später jahrelang Vorsitzender des Presserats. Hätte ich die Beschwerden akzeptiert, weil Zeitungsbilder tote Flüchtlinge zeigten, zuletzt gar das eines angeschwemmten ertrunkenen Kindes? Ich weiß es nicht.

Der Autor war langjähriger Chefredakteur und Herausgeber der „Presse“.
E-Mails an: thomas.chorherr@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.09.2015)

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