Ist die Zeit reif für einen Wechsel der Mehrheit im Nationalrat?

Kern vom Hoffnungsstrahl zum Linken ohne ÖGB – Kurz vom politischen Jungspund zum ÖVP-Retter?

Jetzt wissen wir es. 89 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher (gendermäßig aufgeteilt, wie es sich neuerdings gehört), 89 Prozent also – sagen wir's einfach – der Bevölkerung haben kein Vertrauen „zu Politikern“. Gewiss auch zu den Politikerinnen. Warum der rosarote „Standard“ in seinem Aufmachertitel auf die Teilung nach Geschlechtern verzichtet, weiß ich nicht. Ich glaube dieses jüngste Umfrageergebnis der sogenannten Initiative Mehrheitswahlrecht und Demokratiereform genauso wenig, wie ich den Initiativen der diversen Non Governmental Organizations, der NGOs, vertraue, von Amnesty International des Herrn Patzelt angefangen.

Aber irgendetwas stimmt nicht mit der Politik in diesem Land, das ist schon richtig. Seit ich politischer Journalist bin, und das sind viele Jahre, ist das politische Unbehagen nie größer gewesen. Und auch nicht die Antipathie, die jenen Akteuren entgegengebracht wird, die noch immer die Koalitionsregierung bilden, obwohl diese längst nicht mehr aus sogenannten Großparteien zusammengesetzt ist. Noch immer etwa heißt der Sozialminister Alois Stöger. Noch immer ist im Nationalrat das Team Stronach vertreten. Noch immer hat im Wiener Gemeinderat Sonja Wehsely einen wichtigen Stadträtinposten inne. Und noch immer trifft das Urteil zu, das die Nationalratspräsidentin Doris Bures anfänglich über Christian Kern gefällt hat, als sie von den Plänen erfahren hatte, ihn statt Werner Faymann zum Regierungschef zu machen: Ein guter Manager, sagte sie damals, muss nicht auch ein guter Politiker sein. Sie hat recht gehabt, meinen heute etliche von jenen, die sich damals viel vom neuen Mann versprochen haben.


Auch ich war einer davon. Kern hat mich nicht zuletzt deswegen enttäuscht, weil er recht hat: „Ich bin proletarischer als viele meiner Vorgänger“, sagte er in einem seiner ersten Interviews. Braucht Österreich – nein, keinen Proleten, aber einen Proletarier als Regierungschef? Und was heißt das? Nicht einmal der ÖGB ist zufrieden. Immerhin hat sich Kern mit seinem ÖVP-Vizekanzler Mitterlehner bei der Zustimmung zum Handelsabkommen mit Kanada, Ceta, gefunden. Trotzdem haben sie sich bei der gemeinsamen Verteidigung des Budgets auf der Regierungsbank vor laufender Fernsehkamera einen Strauß geliefert. Auch dies habe ich, der alte politische Journalist, noch nie erlebt.

Kern ist von einem Hoffnungsstrahl zur politischen Enttäuschung geworden. Dafür ist ein anderer auf der Gegenseite von einer belächelten Figur zur Hoffnung der Republik geworden. Auch dies ist mir, dem alten politischen Beobachter, als absolutes Novum vorgekommen: Dass ein Parteiobmann zwei Jahre vor dem kalendermäßigen Neuwahltermin den nicht nur präsumtiven, sondern auch von allen Wissenden gewünschten Nachfolger im Gnack sitzen hat. Sebastian Kurz ist gerade erst 30 geworden. Man hält den jetzigen Außenminister für durchaus fähig, seine Partei, die ÖVP, wieder stark zu machen.

Wobei ein allfälliger Neuwahltermin – Frühjahr oder spätestens Herbst 2017 – eine wichtige Rolle spielen wird. Ein belasteter Bundeskanzler wird dann aller Voraussicht nach einen Konkurrenten haben, der nicht nur zwanzig Jahre jünger, sondern politisch schuldenfrei ist. Man darf auf die nächste Vertrauensabstimmung der Österreicherinnen und Österreicher gespannt sein. Und auch, was die NGOs sagen. Ich kann auf ihr Urteil allerdings verzichten.

Der Autor war langjähriger Chefredakteur und Herausgeber der „Presse“.
E-Mails an: thomas.chorherr@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2016)

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