Eine 17-Jährige schilderte vor Gericht ihre Erinnerungen an das Massaker auf der Insel Utöya: "Ich wusste, dass ich nicht flüchten konnte." Der Attentäter Breivik soll Kampfschreie von sich gegeben haben.
Neue schwer fassbare Leidensgeschichten hat der Prozess gegen den Massenmörder Anders Behring Breivik in Oslo ans Licht gebracht. Am Mittwoch berichtete die 17-jährige Ingvild Leren Stensrud, wie sie das Massaker auf der Insel Utöya am 22. Juli vergangenen Jahres überlebte, indem sie sich schwer verletzt zwischen sieben von Breivik erschossenen Jugendlichen totstellte.
"Ich wusste, dass ich nicht flüchten konnte, dachte an nichts anderes mehr und konzentrierte mich darauf, völlig stillzuliegen", sagte die Norwegerin im Beisein des Täters nach Mitschriften heimischer Medien aus dem Gerichtssaal. Stensrud hatte sich mit anderen Teilnehmern des sozialdemokratischen Sommerlagers in einem Aufenthaltsraum zu verstecken versucht.
Breivik tötete hier sieben Jugendliche und verletzte drei weitere schwer. "Wir konnten uns nicht wegbewegen, blieben da und waren so still wie nur möglich", sagte die junge Norwegerin als Zeugin. Der 33-jährige tötete bei dem Massaker auf Utöya insgesamt 69 Menschen. Durch eine von ihm vorher in Oslo platzierte Autobombe starben acht Menschen. Das Urteil gegen den rechtsradikalen Islamhasser soll im Juli verkündet werden.
Zeugin berichtet von Kampfschreien Breiviks Während der Tötungen soll Breivik Zeugenberichten zufolge Kampfschreie von sich gegeben haben. Sie habe nicht genau verstanden, was Breivik gerufen habe, es habe sich aber nach Kampfgebrüll angehört, sagte die Überlebende Ingvild Leren Stensrud aus. Sie hatte bei dem Massaker im Juli vergangenen Jahres Schussverletzungen an Schulter und Oberschenkel erlitten und sich dann inmitten der Leichen ihrer Freunde tot gestellt.
Die junge Frau schilderte, wie kurz nach dem Attentat zahlreiche Handys um sie herum klingelten und unbeantwortet blieben. Sie habe mit dem Mobiltelefon eines Opfers ihrer Familie ein Lebenszeichen gegeben.
Urteilsspruch in Norwegen: Anders Behring Breivik muss 21 Jahre ins Gefängnis - die Höchststrafe nach norwegischem Recht. Danach soll er in Sicherheitsverwahrung kommen. Das Gericht erklärte Breivik damit für zurechnungsfähig. Ein Rückblick auf den Prozess. (c) EPA Die Staatsanwaltschaft wollte, dass Breivik in eine Anstalt kommt. Der Attentäter sei nicht schuldfähig. Staatsanwältin Inga Bejer Engh sagte in ihrem Schlussplädoyer Ende Juni, Breiviks Verbrechen seien ein "nationales Trauma". Die bewegenden Aussagen der Überlebenden und Hinterbliebenen hätten dem Prozess Würde verliehen. Breivik plädierte übrigens auf Freispruch, weil er aus "Notwehr" gehandelt habe, um Norwegen vor einer vermeintlichen Islamisierung zu schützen. (c) AP (Roald, Berit) Im Zentrum des Prozesses stand zunehmend die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit des Attentäters. Während einige Psychiater vor Gericht aussagten, der Massenmörder sei psychotisch sowie paranoid schizophren und damit nicht schuldfähig, stuften ihn andere als zurechnungsfähig ein. (c) EPA (VEGARD GROETT/ POOL) Vor Gericht sagten auch Überlebende aus, die sich trotz schwerer Verletzungen in Sicherheit bringen konnten. Silja Uteng berichtete, wie sie mit einem Armschuss im eiskalten Fjord ans Festland geschwommen sei. Die 17-jährige Ingvild Leren Stensrud erzählte, wie sie sich schwer verletzt zwischen sieben erschossenen Jugendlichen tot stellte. Breivik verfolgte die Schilderungen ungerührt. (c) EPA (KRISTER SORBO / POOL) Die jungen Leute die von ihren schrecklichen Erlebnissen auf der Insel Utöya berichteten, waren sich einig: Breivik habe ruhig und überlegt gemordet. Even Andre Öien Kleppen war als Samariter auf der Insel. Als er von der Überlegung berichtete, Breivik beim befürchteten Eindringen in einen verbarrikadierten Raum mit einem Feuerlöscher anzugreifen, lächelte der sonst unbewegt zuhörende Breivik.Vor dem Gerichtsgebäude zündete sich an diesem Tag ein Mann selbst an. Er wurde mit schweren Verbrennung ins Spital geliefert. Ein Zusammenhang mit dem Prozess wird nicht vermutet. (c) AP (Stian Lysberg Solum) Breivik hatte im Juli 2011 in Oslo mit einer Autobombe acht Menschen getötet. Anschließend erschoss er auf der Insel Utöya in einem Feriencamp 69 junge Sozialdemokraten. Die Staatsanwaltschaft zeigte die Verletzungen, die die Opfer erlitten, an einer Puppe. Die meisten von ihnen sollen mit je drei Schüssen getroffen worden sein. 25 der 69 Jugendlichen traf der Attentäter in Kopf oder Nacken. (c) EPA (HEIKO JUNGE / POOL) Ein Zuschauer verlor während der Verhandlung die Nerven und warf einen Schuh auf den Attentäter. "Du bist ein Mörder, fahr zur Hölle!", rief ein Mann, dessen 18-jähriger Bruder von Breivik im Juli 2011 auf der Insel Utöya getötet worden war. Der Schuh traf allerdings nicht den Angeklagten, sondern seine Anwältin Vibeke Hein Baera, die zwischen Breivik und dem Publikum saß. (c) EPA (HEIKO JUNGE / POOL) Zuvor musste der Attentäter Detailfragen zu seinem Massaker auf der Ferieninsel Utöya beantworten. Für Schüsse über kurze Distanzen habe er eine Pistole genutzt, für längere Strecken ein halbautomatisches Gewehr. Zu den Opfern meinte er, dass einige der Verletzten oder Toten im Osloer Regierungsviertel keine Verbindung zur Politik gehabt hätten. „An alle diese möchte ich eine große Entschuldigung richten.“ (c) AP (Aserud, Lise) Am fünften Tag der Verhandlung standen die Vorbereitungen für die Attentate mit 77 Toten auf dem Programm. Um diese durchführen zu können, habe sich Breivik emotional total abgekapselt. Bis 2006 sei er ein normaler Mensch gewesen, danach habe er sich „dehumanisiert“. „Man kann niemanden töten, wenn man mental nicht vorbereitet ist", so Breivik. (c) EPA (STIAN LYSBERG SOLUM / POOL) Als Vorbild für sein Vorgehen berief er sich auf das islamistische Terrornetzwerk al-Qaida: „Ich habe viel von al-Qaida gelernt." Die Organisation sei so erfolgreich, weil sie „Märtyrer" (Selbstmordattentäter) einsetze. Er habe das Terrornetzwerk mehrere hundert Stunden lang im Internet und über Filme studiert und eine Art „al-Qaida für Christen" schaffen wollen. (c) EPA (STIAN LYSBERG SOLUM) Gefragt nach seinen Motiven für die Anschläge erklärte Breivik am vierten Verhandlungstag, sich mehr erhofft zu haben: „Das primäre Ziel war, die gesamte Regierung zu töten, inklusive dem Staatschef.“ Zum Massaker auf der Insel Utöya meinte er: „Das Ziel war nicht, 69 Menschen zu töten, das Ziel war, alle zu töten.“ Zum Zeitpunkt des Attentates waren rund 560 Menschen auf der Insel. (c) REUTERS (STOYAN NENOV) Breivik gab an, nicht damit gerechnet zu haben, den Bombenanschlag in Oslo zu überleben. Er habe die Situation daher simuliert und geübt, wieder herauszukommen, unter anderem mit dem Computerspiel „Call of Duty: Modern Warfare". Er sei außerdem mehrmals beim Schießtraining eines Vereins gewesen. (c) EPA (STIAN LYSBERG SOLUM / POOL) Staatsanwältin Inga Bejer Engh versuchte am dritten Tag näheres über Breiviks angebliche Kontakte zu anderen Rechtsextremisten bzw. das von ihm angeführte Netzwerk der „Tempelritter" zu erfahren. Er wich aus: „Sie versuchen zu zeigen, dass ich lüge und mir Dinge ausgedacht habe. Wir können genauso gut gleich zum Schluss kommen, dann brauchen Sie mich nicht lächerlich zu machen". (c) AP (Junge, Heiko) Der zweite Tag des Prozesses wurde gleich nach seinem Beginn wieder unterbrochen. Der Grund: Der Schöffe Thomas Inderbro hatte auf seiner Facebook-Seite die Todesstrafe für den Attentäter gefordert. Er wurde als befangen erklärt und durch einen anderen Schöffen ausgetauscht. (c) Reuters/Pool Dann nahm Breivik erstmals selbst Stellung. Er habe seine Formulierungen aus Rücksicht auf die Hinterbliebenen angepasst, erklärte er und begann seine Stellungnahme mit den Worten: „Ich habe den ausgeklügeltsten und spektakulärsten politischen Angriff in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg durchgeführt." Dann wetterte er gegen den Marxismus, Journalisten und Feministinnen. (c) Reuters/Pool Seine Opfer verhöhnte Breivik. Bei diesen hätte es sich nicht um „unschuldige Kinder" gehandelt, sondern um „politische Kämpfer". Auf der Ferieninsel waren 69 Teilnehmer eines Ferienlagers der regierenden Arbeiterpartei getötet worden. Die Jugendorganisation der Partei verglich Breivik mit der Hitler-Jugend. Die meisten ihrer Mitglieder seien „naiv" und „indoktriniert". „70 Menschen zu töten, kann einen Bürgerkrieg verhindern", ergänzte er. (c) REUTERS (POOL) Vor dem Tinghuset, so das norwegische Wort für Gerichtsgebäude, drängten sich am ersten Verhandlungstag die Übertragungsstände internationaler TV-Stationen. In Oslo müssen über 1400 akkreditierten Journalisten aus dem In- und Ausland untergebracht und betreut werden. (c) EPA (BERIT ROALD) In dem postmodernen Granitbau gleich hinter dem zerbombten Gebäude des Premierministers startete am 16. März 2011 das „Breivik-Festival" - so nennen einige Bewohner der norwegischen Hauptstadt leicht zynisch den Prozess gegen Breivik. (c) AP (Hakon Mosvold Larsen) Allein der Umbau des Gerichtsgebäudes hat den Staat fast vier Millionen Euro gekostet. Insgesamt lässt sich Norwegen den Richterspruch 13 Millionen Euro kosten. Am Bild: Im Gerichtssaal 250 wird Breivik der Prozess gemacht. (c) REUTERS (STOYAN NENOV) Vor dem Gericht wurden Aufkleber mit der Aufschrift "Bitte keine Interviews" verteilt. Diese sind für die Angehörigen der Opfer gedacht, damit sie von den Medien nicht bedrängt werden.Daneben erinnerten Armbänder mit der Aufschrift "Utoya" an das Massaker. (c) EPA (Marianne Lovland) Breivik plädiert in dem Prozess auf Freispruch wegen Notwehr. Er sieht sich selbst als Kämpfer gegen die Islamisierung Europas. (c) Reuters/FABRIZIO BENSCH Rund um das Osloer Gerichtsgebäude wurden Sicherheitskräfte stationiert und Barrikaden sowie Absperrungen errichtet. (c) REUTERS (FABRIZIO BENSCH) In Norwegen flattern nach wie vor Fähnchen am Ufer in Sundvolle nahe Oslo über Blumen und Trauergestecke vor der Insel Utöya, wo Attentäter Anders Behring Breivik 69 Menschen tötete. (c) Dapd (Lefteris Pitarakis) (Ag./Red.)
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